Kanada Wenn die Eisbären kommen

Churchill · Churchill im Norden Kanadas nennt sich Welthauptstadt der Eisbären. Die Einwohner müssen wachsam sein. Touristen aber suchen die Nähe – und zahlen viel Geld für Touren in die Tundra.

  Ein kleiner Polarbär streift vor einem Haus in der Nähe von Churchill umher.      Foto: Dennis Fast/Imago Images

Ein kleiner Polarbär streift vor einem Haus in der Nähe von Churchill umher. Foto: Dennis Fast/Imago Images

Foto: imago images/VWPics/Dennis Fast via www.imago-images

Vor fast genau einem Jahr, am Halloween-Abend, sitzt E.J. MacCuaig in seinem roten Truck am Ortsausgang von Churchill. Er hat es warm in seiner Kabine mit beheizten Sitzen, während unter ihm knöcheltief der Schnee liegt. Hinter ihm breitet sich der Arktische Ozean aus, vor ihm die 900-Einwohner-Stadt. In der Abenddämmerung beobachtet der Feuerwehrmann die dunklen Gestalten, die in der Ferne von Tür zu Tür ziehen. Es ist Halloween und zugleich der sicherste Abend des Jahres im Ort. Wie E.J. haben sich rund 20 Vertreter der Feuerwehr, Polizei und freiwillige Helfer an wichtigen Punkten postiert, oder sie patrouillieren durch den Ort, um ihre Kinder zu beschützen. Die Menschen in Churchill haben nicht etwa Angst vor Verbrechern: Es sind die Eisbären, vor denen sie sich fürchten.

Eisbären sind in Churchill das Thema schlechthin – und überall zu finden: als Gemälde an Hauswänden, als Figuren auf Kommoden, und quicklebendig auf den Straßen. Die Menschen im Norden Kanadas leben mit ihnen. Die Tiere sind Gefahrenquelle Nummer eins und zugleich wichtige Einkommensquelle, denn Churchill nennt sich gerne Welthauptstadt der Eisbären.

Nein, Angst habe sie nicht, sagt die zehnjährige Ella – die Jüngste einer Mädchengruppe, die in Gruselkostümen von Haus zu Haus zieht. „Die Patrouillen passen ja auf uns auf.“ Gemeinsam haben sie bereits zwei Tüten voll Süßigkeiten „erbeutet“, als langsam ein schwarzer Pick-up die leere Straße heranrollt und neben ihnen stehen bleibt. Die Fensterscheibe gleitet hinunter, jemand streckt eine Hand heraus. „Die Bärenpatrouille!“, rufen die Kinder und schlittern auf das Fahrzeug zu. Sie nehmen Bonbons von der Frau am Steuer entgegen. Wie E.J. in seinem Feuerwehrtruck wirken auch die Umweltamts-Mitarbeiterin an diesem Abend entspannt. Sie vertreiben sich die Zeit damit, Süßes an Hexen, Geister und Zombies zu verteilen.

Eine der Hauptsorgen der Kinder vor Halloween war die Frage, welches Kostüm über ihren Skianzug passt, den sie tragen müssen, um sich vor der Kälte zu schützen. Churchills Nachwuchs lernt von kleinauf, dass sie bei allen Sorgen eines niemals vergessen dürfen: die Bären. Die Notfallnummer kann jedes Kind im Schlaf aufsagen. Während es woanders heißt „Schau nach links und rechts, bevor du über die Straße gehst“, heißt es in Churchill: „Schau nach links und rechts, bevor Du vor die Türe trittst.“ – „Die Schüler erhalten regelmäßig ein Sicherheitstraining“, sagt Grundschullehrerin Lisa Manning. Und jeder Neuankömmling im Ort, ob Zugezogener oder Gast, kann sich informieren, wie er sich zu verhalten hat. Es gilt, die Begegnung mit einem Bären zu vermeiden – um des Menschen, aber auch um des Tieres Willen.

Immer wieder betonen die Anwohner: „Wir erschießen einen Bären nur im äußersten Notfall, nur wenn er angreift. In der Regel verjagen wir ihn.“ Feuerwehrmann E.J., der seit acht Jahren in Churchill lebt, sagt: „Es wird normal, hier zu wohnen. Ich habe keine Angst, auch nicht um meinen Sohn, aber wir sind alle immer wachsam, sobald wir das Haus verlassen.“

Churchill, zwei Tage später. Der Halloweenabend ist ruhig verlaufen. Im größten Gebäude der Stadt, einem Komplex aus Grundschule, Bibliothek, Krankenhaus, Kantine, Kino und Indoorspielplatz hat es sich Wachmann Andrew auf einem Bürostuhl bequem gemacht. „Heute Morgen gegen fünf Uhr war da draußen eine Mutter mit ihrem Jungen unterwegs.“ Er zeigt durch die riesige, dem Meer zugewandte Glasfront. „Die können durch Wände gehen, wenn sie wollen“, sagt Andrew und scheint nicht weiter beeindruckt. „Machen sie in der Regel ja nicht.“ Und für den unwahrscheinlichen Fall, dass einer der felligen Gesellen doch versuchen sollte, in das Gebäude einzudringen, sei er da. „Ich weiß, wie man mit Waffen umgeht und wo hier der Waffenschrank ist.“ Doch normalerweise flüchte ein Eisbär schon, wenn er nur Lärm höre. „Die Tiere heute Morgen hat die Patrouille mit Schreckschusspistolen verjagt.“

Wie die meisten Churchillianer könnte Andrew stundenlang von seinen Begegnungen mit Bären erzählen. Erst vergangene Woche, erzählt er, habe er Freunden geholfen, Gitter an eine Haustür anzubringen. „Direkt im Ort ist so etwas nicht nötig, doch wer weiter draußen wohnt, braucht das.“ Aufgewachsen sei er in den Rocky Mountains, erzählt der stämmige Rothaarige. Mit einer anderen Bärenart, den Grizzlies, hatte er bereits Erfahrung, als er nach Churchill zog. „Die sind unfreundlicher“, findet er. Eisbären seien verspielt und neugierig. „Mein Wagen ist voller Kratzer, weil sie sich immer daran hochmachen.“

Dennoch, ohne Schutz und Sicherheitsabstand einem Bären zu begegnen, darauf hat in Churchill keiner Lust. Automatisch scannen sie den Horizont, wenn sie zu Fuß unterwegs sind, Seitenstraßen, in denen die Tiere Schutz vor dem harschen Wetter suchen könnten, meiden sie. Es sind vor allem zwei Faktoren, die einen Bären gefährlich machen: Angst um sich oder die Jungtiere, wenn er sich bedrängt fühlt, zum Beispiel. Dann greift er an. Oder der Geruch von Lebensmitteln: Als im Jahr 1983 ein Anwohner nachts mit einer Schachtel Hamburgern unterwegs war, fiel er einem Bären zum Opfer. In einem solchen Fall töten die Ranger das Tier anschließend – weil ein Bär, der einmal Kontakt mit Menschen hatte, mit aller Wahrscheinlichkeit seine Angst vor ihnen verloren hat.

Solche Geschichten überziehen manche Touristen wohlige Schauder. Einerseits hoffen sie, eines der bis zu 500 Kilo schweren Tiere zu sehen. Andererseits fürchten sie sich davor. Sie wissen, dass die meisten Häuser und Autos im Ort unverschlossen sind, neben vielen Lenkrädern steckt der Schlüssel. Käme einer der felligen Riesen um die Ecke, könnten sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach retten.

Da das Sicherheitsnetz gut funktioniert, die Bärenpatrouille unterwegs ist und regelmäßig Helikopter aufsteigen, um die Gegend von oben zu kontrollieren, ist das Risiko gering, dass mitten am Tag ein Eisbär auf den Straßen auftaucht. Aus diesem Grund bieten mehrere Veranstalter Touren in die Tundra an. Dort ist die Chance, ein Exemplar zu sehen, groß. Dafür nehmen jährlich Tausende Touristen einen weiten Weg auf sich: Zwei Tage und Nächte dauert es, mit dem Zug von Winnipeg aus nach Churchill zu fahren. Eine Straße gibt es nicht, höchstens das Flugzeug überwindet noch die gut 1000 Kilometer, die zwischen der Provinzhauptstadt Winnipeg und der Welthauptstadt der Eisbären liegen. Wer sich für den Flieger entscheidet, zahlt für den anderthalbstündigen Flug bis zu 1000 Dollar.

Doch man muss sich auch keinen Bären aufbinden lassen, um einen zu sehen. Wer sich ein wenig umhört, wird auf Anbieter treffen, die Foto-Touren für rund 100 Dollar anbieten. So setzt sich beispielsweise der 60-jährige John fast täglich an das Steuer eines polarweißen Vehikels, Modell amerikanischer Schulbus. Heute sitzen in den Zweier­reihen hinter ihm elf Touristen aus Asien und Europa, ausgerüstet mit Kameras.

Gemeinsam verlassen sie den Ort über eine geteerte Landstraße, von der nicht ganz klar ist, wohin sie führt, jedenfalls nicht bis nach Winnipeg. Alle im Bus haben sich die Mützen weit über die Ohren gezogen und schauen konzentriert aus dem Fenster. Sie hoffen auf Bilder, wie sie die Einheimischen immer wieder gerne zeigen: Fotos von süßen Eisbärenkindern – aufgenommen, so scheint es, aus nächster Nähe.

Der Bus rollt durch eine von sanften Hügeln durchzogene, schneebedeckte Landschaft. 20 Minuten dauert es, da taucht in der Ferne wieder der Arktische Ozean auf, der in der Nachmittagssonne strahlendblau leuchtet und nicht so kalt aussieht, wie er ist, nämlich kurz vor dem Gefrierpunkt, auf den alle warten – Eisbären wie Menschen. Denn für die Churchilianer heißt das: Entwarnung, die Eisbären trollen sich zur Robbenjagd aufs Packeis. Für die Bären heißt das: Der Tisch ist gedeckt.

Im Oktober treiben sich die Tiere in der Tundra herum. John fährt und seine Passagiere packen Kekse aus, plaudern mit Sitznachbarn. Als ein neuer Streckenabschnitt den Bus auf seine Geländetauglichkeit prüft, erwachen sie aus der Lethargie. Das Fahrzeug schwankt wie ein Schiff auf rauer See über einen schlaglochübersäten Feldweg. Die Schneedecke verschluckt die Unebenheiten der flachen Landschaft. Nur langsam gewöhnen sich die Augen an das weiße Einerlei.

Kaum zwei Minuten später, Churchill ist noch in Sichtweite, sehen Johns Passagiere das größte an Land lebende Raubtier der Erde. Die Kameras klicken, doch die Tiere sind zu weit entfernt. Der Bus fährt weiter, und noch ist sie da, die Hoffnung, ein besseres Bild zu bekommen.

Wenige Kilometer weiter verrät eine Reihe am Straßenrand parkender Autos, dass es auch hier etwas zu sehen gibt: In rund 40 Metern Entfernung vertreibt sich eine weitere Eisbärin mit Jungtier die Wartezeit auf die Jagdsaison. Beide rollen im Schnee herum, scharren mit den Tatzen und springen, teils unfreiwillig komisch, in die Luft – laut John, um sich ein Schneenest zum Schutz gegen Wind zu bauen. Es vergehen anderthalb kalte Stunden, der Frost kriecht in die Beine, die Welt wird sekündlich um Amateurfotos mit Schnee und Bären reicher.

Plötzlich halten alle den Atem an. Das Bärenkind läuft los – in Richtung der Touristengruppe. Seine Aufsichtspflicht wahrnehmend trottet das Muttertier hinterher. Wer die Informationsbroschüren gelesen hat, weiß: Weibchen in Sorge um ihren Nachwuchs können gefährlich sein. So beobachten alle das Junge, das unsichere Schritte in Richtung der Autos tut. Gemächlich schreitet die Bärin hinterher. Beide sind nun so nah, dass man es als spektakulär bezeichnen kann: rund 30 Meter. Die Fotografen denken nicht daran, in die Wagen zu steigen, die ein ausgewachsener Bär wohl so leicht öffnen könnte wie ein Mensch eine Büchse Sardinen. Das Jungtier denkt nicht daran, zurückzukehren. Keiner sagt ein Wort. Wie wird die Mutter reagieren? Kurz richtet sie sich auf, steht wie eine Eisskulptur, fast drei Meter hoch, in der Landschaft.

Dann läuft das Bärenkind zurück in die Tundra. Ein letztes Mal klicken die Kameras, die Tiere kehren um und trotten davon. John ist ein ordentliches Trinkgeld sicher.

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