Wildspitze und Weißkugel Bergsteigen auf den Eisriesen des Ötztals

Vent · Weitläufige Gletscher, steile Bergflanken, schroff-schöne Natur: Auf den Eisriesen der Ötztaler Alpen kommen Bergsteiger dem Himmel ganz nahe. Lohnenswerte Hochtouren führen auf Wildspitze, Weißkugel, Hintere Schwärze oder Similaun.

Bergsteigen auf den Eisriesen des Ötztals
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Bei jedem Schritt knarzt der hartgefrorene Schnee unter den Steigeisen, Eiskristalle funkeln wie Diamanten. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages streifen die Bergketten im Osten, das Blau des Himmels wird zunehmend satter. Noch liegen die Täler im Schatten, dort wäre es bald Zeit für das Frühstück - stattdessen Aufstieg über die vergletscherte Westflanke des Similauns. Der Gipfel liegt auf 3599 Metern in den Wolken. Die Spuren im Firn steigen nicht allzu steil auf. Der Berg ist einer der leichteren Dreitausender unter den eisbedeckten Riesen des Ötztals.

Noch eine halbe Stunde sind es bis auf die Spitze, noch eine Serpentine nach rechts, dann kreuzt der Weg hinüber zum Gipfelgrat. Plötzlich reißt das Nebelgrau auf. Mehr als 300 Meter unterhalb des Grats glänzt der Gletscher im Sonnenlicht wie das Wasser eines Ozeans, am Horizont ragen ferne Gipfel aus Wolkenkissen, die wie Watte um die Gebirgszüge drapiert sind. Die Atmung beruhigt sich, das Gehirn versucht, den Ausblick einzuordnen, was nicht leicht ist: Die zerklüftete Eislandschaft hier oben sieht so unwirklich aus, als habe sie ein Grafiker für einen Fantasyfilm erschaffen.

Größte Gebirgsregion über 3000 Metern

Im hinteren Ötztal, dort wo der Similaun in den Himmel ragt, liegen viele der imposantesten Dreitausender Österreichs. Die 3768 Meter hohe Wildspitze ist nach dem Großglockner in den Hohen Tauern zwar nur der zweithöchste Berg der Alpenrepublik. Die Ötztaler Alpen sind aber die flächenmäßig größte Gebirgsregion über 3000 Metern in den Ostalpen, und sie sind am stärksten vergletschert. Wer zum ersten Mal eine Hochtour machen will, findet hier optimale Bedingungen - und einen souveränen Lotsen.

Kilian Scheiber ist staatlich geprüfter Bergführer. Sein Büro liegt im dem kleinen Ort Vent, aber dort hält sich der 45-Jährige selten auf. Die meiste Zeit ist er hoch oben unterwegs auf Graten und Gletschern und führt seine Kunden durch die Bergwelt seiner Heimat, seiner Kindheit. Die meisten Touristen wollen auf die klassischen Gipfel: Wildspitze, Similaun, Fluchtkogel oder Fineilspitze. Aber auch unbekanntere Ziele hat Scheiber im Programm, die Tour kann man sich individuell zusammenstellen.

"Wir haben die meisten bekannten, hohen und attraktiven Gipfel in den Ostalpen", erklärt Scheiber, der gerade noch nüchtern die Namen der Berge aufgezählt hat und nun doch ins Schwärmen gerät. "Die Weißkugel ist für mich die Königin der Ötztaler Alpen, ein traumhafter Berg", sagt er. "Sie steht sehr wuchtig und mächtig da, eine dominante Berggestalt."

Die Weißkugel ist kaum niedriger als die Wildspitze, zweithöchster Gipfel der Region und ein Ziel, das sofort die Begehrlichkeiten jedes ernstzunehmenden Bergliebhabers weckt. Wer sich vom Hochjochhospiz aus, einer Hütte des Alpenvereins im Rofental, an eine Besteigung wagt, der wird sein Hemd wenigstens einmal durchschwitzen, bis er dem Berg überhaupt nahe kommt.

Der Pfad führt von der Hütte erst in ein Hochtal, der Morgen dämmert, ein Bach rauscht entlang des Weges. Im Gasthaus "Schöne Aussicht" bietet sich nach zwei Stunden Fußmarsch ein kleines Frühstück an, sofern die baulichen Überreste des Skibetriebs das Naturerlebnis nicht allzu arg stören. Danach wird es richtig steil.

Endlose Serpentinen ziehen sich den staubigen Hang hinauf, die Sonne brennt jetzt heiß im Nacken. Noch ein verlorener Lift, dann ist das felsige Joch erreicht, das endlich das Panorama der Weißkugel freigibt: Der Gipfelaufbau des Berges ragt wie ein Dom aus Firn und Fels in den Himmel, die Zunge des Hintereisferners fließt über eine Länge von sieben Kilometern ins Tal hinab.

Zwei Stunden über Schnee und Eis

Weiter geht es zum Gletscher, dort wird angeseilt. Ab hier sind es noch einmal knapp zwei Stunden über Schnee und Eis, bis das metallene Kreuz auf der Spitze erreicht ist. Die letzten Meter verlangen volle Konzentration, die Flanke des Berges fällt steil ab. Auf dem luftigen Fleckchen ganz oben steigt diese typische erschöpft-zufriedene Gipfeleuphorie auf. Durchatmen, lächeln, sich umarmen. Der hochalpine Ausblick ist umfassend und entschädigt für alle Mühen.

Drei Stunden dauert der Abstieg über den Hintereisferner. Das Gehen mit Steigeisen und die Ermüdung des Körpers lassen die Knie zittern. Im Hochjochhospiz gibt es Spaghetti Bolognese und Radler, zur Stärkung, die Gaststube ist warm und urig.

Die Hütten im Ötztal sind mittlerweile bestens ausgestattet. Vor zehn Jahren habe es fast nirgendwo eine heiße Dusche gegeben, erinnert sich Scheiber. "Das hat sich schon sehr gewandelt." Heute kämen gerade die Schweizer und Franzosen gerne, obwohl sie ja genug imposante Berge vor der eigenen Haustür hätten. "Aber sie mögen gerade den Komfort und das Gemütliche, das es bei uns gibt."

Fragt man Kilian Scheiber nach seinem Geheimtipp, nennt der Bergführer die Hintere Schwärze, obwohl der Berg nicht wirklich unbekannt ist. Ausgangspunkt für eine Gipfeltour ist die Martin-Busch-Hütte. In der Hochsaison im Juli und August ist eine Reservierung für eine Übernachtung mehr als ratsam - sonst bleibt oft nur die Sitzbank in der Stube als Schlafplatz.

Gegen 5.00 Uhr soll es losgehen, der Tag ist noch schwarz, die Hütte still. Ein Aufbruch vor Morgengrauen ist bei einer Hochtour immer klug: Wenn die Mittagsonne den Gletscher aufweicht, werden die Schneebrücken über den Spalten brüchig und Stürze wahrscheinlicher - also besser früh wieder unten sein. Die Hintere Schwärze ist auch beim ersten Aufhellen des Tages noch nicht zu sehen. Zwischen Schutt und Felsen geht es auf den Marzellferner, dann im Zick-Zack angeseilt durch den Gletscherbruch. Langsam kriegt der Morgen Farbe.

Durch die tief getönten Gläser der Schneebrille sieht die aufsteigende Sonne aus wie ein gleißender weißer Lichtkreis. Das Eis glitzert unter den Füßen wie ein zerbrochener Spiegel. Ganz langsam, mit jedem Schritt etwas mehr, schiebt sich die Hintere Schwärze ins Blickfeld. Sie liegt nicht weit vom Similaun entfernt, aber der Aufstieg hier ist fordernder, die Routenfindung anspruchsvoller. Der Gipfel sieht aus wie eine Haifischflosse. Die schattige Nordwand fällt zu einem weitläufigen Gletscherbecken ab, es funkelt unberührt in der Morgensonne.

Die Spuren im Schnee führen jetzt wieder steiler in Richtung Gipfelgrat, auch die Höhe lässt die Atmung schneller gehen. Noch ein Aufschwung, dann blitzt das Kreuz in den Himmel. Von der Hinteren Schwärze sind die Ortler Alpen zu sehen, die mächtige Nordwand der Königsspitze, und weiter im Westen die knapp über 4000 Meter hohe Bernina-Gruppe: Schneeriesen am Horizont. Es ist ein ziemlich exklusiver Ausblick von hier oben.

Dreitausenderluft können Bergsteiger in den Ötztaler Alpen natürlich auch einatmen, ohne einen Gletscher zu betreten. "Felsberge oder Steinhaufen, wie ich es nenne, gibt es viele", sagt Bergführer Scheiber. Die immerhin 3455 Meter hohe Kreuzspitze etwa ist bei Sonne leicht von der Martin-Busch-Hütte zu ersteigen und bietet das volle 360-Grad-Panorama der Ötztaler Bergwelt. Aber es sind natürlich die Gletscher, die Bergsteiger hier ins Hochgebirge ziehen.

Am Ende einer Tourenwoche lässt sich der Reiz, auf dem höchsten Berg in Tirol zu stehen, trotz vorheriger kräftezehrender Aufstiege nicht mehr ignorieren. Die Wildspitze ist von so gut wie jedem hohen Gipfel im Umkreis zu sehen, fast ignorant wäre es da, nicht doch noch auf ihre Spitze zu steigen.

Die Breslauer Hütte südlich des Berges ist am Abend übervoll. Mehr als 200 Menschen haben ihre Lager bezogen, das Wochenende verspricht Sonne satt. Es lohnt sich natürlich wieder, am besten vor allen anderen Bergsteigern aufzustehen und loszugehen. Am Mitterkarjoch folgt nach einer Stunde die Schlüsselstelle der Route: ein felsiger Aufschwung mit Klettersteig. Hier braucht der Bergsteiger Konzentration, seine Hände und ein wenig Kraft in den Armen.

Das Firnbecken oberhals des Jochs ist noch hartgefroren, die Bergkämme schimmern blass in der Ferne. Nicht mehr weit ist es über den Südwestgrat auf den Gipfel der Wildspitze. Oben noch ein paar Meter auf dem Grat balancieren, und das Ziel ist erreicht. Das Sonnenlicht liegt wie ein mattgoldener Schleier über den Bergen im Osten. Am Kreuz wird der Flachmann gezückt. Auf das gute Gefühl, heute als erste Gruppe diesen Ausblick zu genießen. Auf die Schönheit der eisgepanzerten Bergwelt. Und auf einen sicheren Abstieg.

Schwierigkeiten und Vorkenntnisse

Für Bergtouren in hochalpines Gelände braucht es neben Kondition, Trittsicherheit und solider Bergerfahrung die richtige Ausrüstung: Steigeisen, Eispickel, Anseilgurt, Gletscherseil, Eisschrauben zum Sichern, Karabiner sowie Band- und Prusikschlingen, wie Stefan Winter vom Deutschen Alpenverein (DAV) erklärt. Kommerzielle Bergführer stellen dieses Equipment meist zur Verfügung. Unabhängig davon sind steigeisenfeste Bergstiefel wichtig sowie wind- und wasserfeste Kleidung, Mütze, Handschuhe, Schneebrille und Sonnencreme.

Geführte Touren eignen sich Winter zufolge gut für Wanderer und Bergsteiger, die erste Erfahrungen auf Gletschern sammeln wollen, ohne gleich einen Kurs belegen zu müssen. Viele Hochtourenliebhaber verließen sich gerade im anspruchsvollen, hochalpinen Gelände auf die Erfahrung und Sachkenntnis von qualifizierten Tourenleitern. "Und dann gibt es auch Leute, die nach einer geführten Tour feststellen, dass sie doch lieber beim Wandern bleiben", sagt Winter.

(dpa)
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