Italien Apulien – in Stein gehauene Geschichte

Alberobello und Matera: Die beiden Städte in Süditalien beeindrucken mit rätselhafter Weltkulturerbe-Architektur. Bei der einen sind die Häuser aus groben Kalksteinen, bei der anderen sind sie in Tuffstein geschlagen.

Das muss Schlumpfhausen sein! Ein Städtchen bestehend aus weißen, Iglu-artigen Häuschen mit grauen Zipfelmützen-Dächern. Manche von ihnen mit geheimnisvollen aufgemalten Symbolen. Trulli heißen diese merkwürdigen Rundbauten, nirgendwo gibt es so viele wie gut fünfzig Kilometer südlich von Bari, in Alberobello. 1030 auf der einen Seite der Hauptstraße, im touristischen Stadtteil Monti, weitere 590 auf dem anderen Hügel, in Aja Piccola.

Hier in der Via Giuseppe Verdi wohnt Antonia. Und zwar schon seit ihrer Geburt vor 85 Jahren. Nur für ein paar Monate war sie in der Schweiz, hat dort in einer Textilfabrik gearbeitet. Schnell ging's wieder zurück in ihren Trullo. Dabei ist in diesen aus groben Kalksteinblöcken errichteten Hütten nicht viel Platz. Ein Bett, ein Tisch, die Miniküche und das in eine Ausbau-Ecke gequetschte Bad. Für so eine Einrichtung müssen oft schon zwei, drei Trulli tunnelartig verbunden sein. Fenster? Schießscharten trifft es eher.

Diese eigenartigen Behausungen, rund um Alberobello im Itria-Tal auch auf Feldern zu sehen, entstanden als gerissenes Steuersparmodell eines fiesen Grafen: Gian Girolamo II, genannt "Il Guercio" (der Schielende), bekam die Gegend im 17. Jahrhundert als Lehen, weil er gegen türkische Invasoren gekämpft hatte. Grundsteuern für alle Häuser sollte er an den König nach Neapel entrichten. Also wies er die von ihm im Itria-Tal angesiedelten Bauern an, ohne Mörtel zu bauen. So entstanden die Trulli aus kegelförmig bis in die Dachspitze aufgeschichteten Steinen. Kündigten sich Steuerinspektoren an, mussten die Bewohner sie so schnell wie möglich einreißen. 1654 war's mal wieder soweit, der Graf vertrieb die Bewohner Alberobellos in den Wald, die Steuerprüfer fanden nur Steinhaufen und verschwanden – angeblich ohne zu kassieren. Doch Ende des 18. Jahrhunderts waren die Menschen in Alberobello ihre wackeligen Lego-Häuschen leid und bekamen am 27. Mai 1797 die Erlaubnis vom König, nun "unkaputtbar" bauen zu dürfen.

Heutige Trulli haben ein gemauertes Rund mit bis zu drei Meter dicken Wänden, die im Sommer vor Hitze schützen und im Winter die Kälte abhalten. Nur noch das Dach ist schuppenartig aus Steinen aufgeschichtet. Im Stadtteil Monti beherbergen die meisten Trulli kleine Läden, Werkstätten, Souvenir-Kioske. Hier droht Trulli-Overkill: Spardosen in Trullo-Form, Trulli-Topflappen und Miniatur-Trulli im Modelleisenbahn-Format. Mitten in Schlumpfhausen kann man als Besucher auch übernachten, in einfachen, nicht sehr geräumigen Unterkünften – wie etwa bei Domenico Palmisano; er vermietet zwölf Trulli.

Weiter geht's nach Matera, 70 Kilometer westlich. Ein Bummel durch Gassen mit kleinen Läden, Obstständen und Straßenhändlern zur Piazza Via Veneto – durch einen Torbogen auf eine Aussichtsplattform. Was für ein Panorama! Ein Schlund von fast 180 Grad. Drei, vier Stockwerke tief geht es hinunter. Bebaut ist dieser Krater mit beigen Kastenhäusern, scheinbar wahllos zueinander gestellt und aufeinander gestapelt. Dazwischen ein Gassengewirr und schwarze Löcher – Höhlen, italienisch: Sassi. So heißen diese Stadtviertel Materas bis heute. 60 ehemalige Felsenkirchen befinden sich darin und unzählige Wohnungen, jahrhundertelang in den Tuffstein geschlagen. 15 000 Menschen hausten hier unter ärmlichsten Verhältnissen bis in die 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Keine Heizung, kein Strom, kein fließend Wasser. Als das publik wurde, ließ der italienische Ministerpräsident de Gasperi 1952 die Sassi von Matera unverzüglich räumen. Die Menschen bekamen aus dem Boden gestampfte Neubauwohnungen am Stadtrand. Die Sassi verfielen, wurden Filmdrehort für Regisseur Pasolini, sind heute Weltkulturerbe. Trotzdem: Tagsüber erscheinen die Sassi immer noch schäbig. Sandfarbene, bröckelnde Fassaden mit Grauschleier, zugesperrte Tordurchgänge, hinter denen es aussieht wie am Sperrmülltag. An den holprigen Kopfsteinpflasterwegen nur hier und da ein Laden, ein paar Hotels, Wohnungen.

Abends aber weicht jeglicher Schmuddel-Eindruck, und die Sassi werden zur aufgehübschten Diva. Abendsonnenstrahlen tauchen die Höhlenschlucht in violettes Licht, mittendrin gelbe Straßenlaternen wie Glühwürmchen. Restaurants öffnen. Diese einmalige Atmosphäre kann man am besten erleben, wenn man eine Nacht im Schlund von Alberobello verbringt. Im Hotel Sassi etwa. Eine ehemalige Felsenwohnung, bestehend aus einigen miteinander verbundenen Höhlen mit grandiosem Blick. Abends fällt man ins Bett direkt unterm Tuffsteingewölbe. Möglich, dass nicht nur der Sandmann was in die Augen streut, sondern auch feiner Staub von der Decke rieselt.

(RP)
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