Eine altmodische Tugend Tut eure Pflicht!

Analyse · Selbstverwirklichung und Hedonismus sind heute angesagt. Es ist geradezu verpönt, etwas aus Pflichtgefühl zu tun. Dabei ist eine solche Haltung bitter nötig – und aktueller denn je.

Martin Kessler
00:00
00:00

Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos | Feedback senden

Altenpflegerin mit Seniorin in einer Einrichtung in Niedersachsen.

Foto: dpa/Sina Schuldt

Du musst auch an dich denken – dieser Satz symbolisiert wie kaum ein anderer das gegenwärtige Lebensgefühl. Wer Kinder selbstlos aufzieht, Angehörige aufopfernd pflegt, Überstunden in einer sozialen oder medizinischen Einrichtungen ableistet, im Ehrenamt übergroßes Engagement zeigt, dem oder der wird dieser Satz oft entgegen gehalten. „Übernimm dich nicht, mach eine Pause, lass die anderen auch mal ran.“ Das sind Abwandlungen dieser Empfehlung, die oft auch als direkte Aufforderung gemeint ist. Es gilt heutzutage fast als falsch und schädlich, zu viel für andere zu tun oder Dinge voranzutreiben, zu denen man wenig Neigung verspürt, die aber gemacht werden müssen.

So sehr der Hedonismus, die Freude am selbstbestimmten Arbeiten, die auf jeden Fall Spaß machen muss, unsere Zeit prägt, so wenig wird eine andere Eigenschaft geschätzt: das Pflichtbewusstsein. Es war einst gerade bei uns Deutschen die wichtigste Tugend. Ihr Absturz ist umso tiefer. „Oh sag mir, was heißt Leben?“ lautet die Frage in einem Sinnspruch für Poesiealben aus früherer Zeit. Die Antwort ist bezeichnend: „Genießen heißt es nicht, erfüll auf allen Wegen getreulich deine Pflicht.“ Stärker könnte der Gegensatz zwischen damals und heute nicht ausfallen. Genießen, Spaß, Freude, Selbstverwirklichung – das sind die Tugenden der heutigen Zeit. Selbstverleugnung, Pflichterfüllung, Leidensbereitschaft dagegen sind völlig aus der Zeit gefallen.

Die Werbung, die am besten die Werte, Überzeugungen und Einstellungen der Gegenwart wiedergibt, ist heute voll von Begriffen wie: Lass es dir gut gehen, du hast es dir verdient, mach dein eigenes Ding. Die Parfüm-Marke „Égoïste“ der weltbekannten Luxusfirma Chanel enthält diese Haltung schon im Namen. Sie ist seit 1990 erfolgreich. Geradezu ein Banner des heutigen Hedonismus. Wie lautete es früher in der Lenor-Werbung? Siehst du, jetzt hast du ein schlechtes Gewissen (weil die Wäsche nicht rein genug war).

Der Haltungswechsel hat die Gesellschaft verändert. Wer pflichtbewusst ist und seine persönlichen Bedürfnisse hinten anstellt, gilt als altmodisch, fast kauzig, als wenig attraktiver Zeitgenosse. Im besten Fall ist er oder sie ein Langweiler. Der selbstlose Einsatz ist in Verruf gekommen. „Was nützt dir das?“ lautet die inquisitorische Frage an Personen, die sich dennoch verpflichtet fühlen, Dinge zu tun, die auf den ersten Blick wenig spannend, weiterführend und attraktiv sind.

Das fängt im Arbeitsleben an: Wer will noch harten körperlichen Einsatz bringen – als Handwerker, Pflegerin, Reinigungskraft oder Rettungssanitäter? Das schöngeistige Studium, die Herausforderung im intellektuellen Raum, die Künste stehen ganz oben in der Werteskala. Schon die Quälerei mit komplizierten Rechenaufgaben, die Anforderungen der Rechtschreibung oder die gründliche Argumentation im politischen Raum gilt als nicht der Mühe wert. Dafür gibt es doch die Erbsenzähler, die Pedanten oder die Kontrollfreaks, die es einfach nicht lassen können. Eine Pflicht zur Genauigkeit – wo kommen wir denn dahin?

Auch das Arbeitsethos ist in Verruf geraten. Wer sich in eine Sache festbeißt, sie über das gewünschte Maß hinaus durchdringen will oder eine Qualität abliefert, die gar nicht verlangt ist, gerät in Rechtfertigungszwänge. Die Work-Life-Balance, die richtige Mischung aus Arbeit und Freizeit, beherrscht die Arbeitsangebotsfunktion gerade bei jüngeren Menschen. Aus Pflicht einem Kollegen, Kunden oder Unternehmen gegenüber mehr zu arbeiten, als nötig ist, gilt fast als absurd.

Die Abkehr von der Pflicht kommt nicht von ungefähr. In der Vergangenheit wurde oft stark übertrieben. Freude, Neigung oder Spaß waren geradezu verpönt – genauso wie sie heute erwünscht sind. Zudem konnten Starke und Mächtige das Pflichtbewusstsein einfacher Menschen perfekt ausnützen. Geradezu beispielhaft beschreibt es der deutschen Schriftsteller Siegfried Lenz in seinem Roman „Deutschstunde“. Über die „Freuden der Pflicht“ soll ein junger Mann schreiben, der in einer Anstalt für schwer Erziehbare im Nachkriegsdeutschland zwangsweise untergebracht ist. Er bekommt Arrest, weil er zunächst nur leere Seiten abgibt. Dann nützt er aber diese Abgeschnittenheit aus, um gegen die fanatische Pflichterfüllung seines Vaters zu schreiben. Der musste im Auftrag der NS-Polizei das Malverbot für einen Künstler überwachen, der Bilder produziert hatte, die den Machthabern missfielen. Der Vater tut seine Pflicht und bespitzelt den Maler, obwohl er gar nicht mit der NS-Ideologie übereinstimmt und das eigentlich als Unrecht ansehen dürfte. Es wird aber von der Obrigkeit verlangt – und damit zu seiner Pflicht.

Dass es sich um eine Perversion dieser Tugend handelt, wird übersehen. So sehr Nazis und andere Gewaltherrscher dieses Gefühl ausgenützt haben: Das Wort Pflicht kommt laut „Wiktionary“, dem freien Wörterbuch, von pflegen. Im Alt- und Mittelhochdeutschen bedeutet es, „für etwas einzustehen“. Das klingt schon ganz anders. Das bedeutet Haltung, Konsequenz, Hingabe an eine gute Sache.

Der wohl größte deutsche Philosoph Immanuel Kant macht die Pflicht in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ zum zentralen Fundament seiner Morallehre. Sie ergibt sich aus der Vernunft, nach der das sittliche Handeln aller die Grundlage für das Wohl aller ist. Erst die Pflicht befreit den Menschen daraus, einfach der Natur zu folgen und das zu tun, was ihm gerade beliebt – ohne die Folgen zu bedenken. Dagegen steht nach Kant „die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung vor dem moralischen Gesetz“, wie er es selbst formuliert . Der Mensch kann aus freier Entscheidung gut sein. Er ist nicht mehr von Erziehung, Gefühl oder Stimmungen abhängig. Pathologien nach Ansicht Kants.

Die Pflicht, also die freiwillige Erfüllung des sittlich Guten, macht den Menschen frei und ist viel fortschrittlicher, als es auf den ersten Blick erscheint. Wer sein Ego zurückstellt und etwa seinen Kindern eine gute Zukunft gewähren will – durch Entbehrung, harte Arbeit, dauernde Zuwendung –, der trägt freiwillig zu einer besseren Welt bei. Das ist natürlich heute immer noch der Fall, teils sogar noch intensiver als früher. Aber es ist nicht mehr selbstverständlich. Das Gleiche gilt auch für den Kampf gegen Krankheiten, die Suche nach besseren Lösungen in Technik und Politik. Aber auch die Pflege einer Wohnung, eines Stadtteils oder der Natur. Sich für etwas einzusetzen, ohne direkt belohnt zu werden, ist Teil der Pflichterfüllung.

Die Pflicht als Gedankensystem entstand nicht von ungefähr im deutschen Geistesleben. Die Briten erfanden die Ökonomie, das größte Glück der größtmöglichen Zahl. Dabei gingen sie ganz realistisch von den tatsächlichen Motiven der Menschen aus, dem Eigennutz, der natürlichen Faulheit und der Vorliebe für den gegenwärtigen Konsum zulasten des künftigen. Von sich aus ist der Mensch nicht altruistisch, er arbeitet nicht gerne und legt auch keine Ersparnisse für die Zukunft an. Nur wenn er durch die Umstände, den Markt, gezwungen wird, verhält er sich so, wie er sich nach Kant freiwillig verhalten sollte.

Wer hat nun Recht? Die Gesellschaft würde schnell zusammenbrechen, wenn wir nur unseren Gefühlen folgten und die Pflicht vergessen würden. Niemand müsste sich dann an einen Vertrag halten, den der andere nicht ausreichend überwachen kann. Wer das Geld bei einem Kauf vor der Ware erhält, würde sich aus dem Staub machen oder umgekehrt die Ware behalten. Kinder würden verwahrlosen, Kollegen und Kolleginnen im Stich gelassen. Es würde nicht einmal Sinn machen zu wählen oder einem anderen den Weg zu erklären. Denn dafür gibt es schließlich keine Gegenleistung. Der perfekte Hedonismus würde die Gesellschaft zerstören, ein Zusammenleben wäre nicht möglich.

Es ist die Pflicht im Sinne Kants, die freiwillige Beachtung der Grundsätze, die ein Zusammenleben möglich machen, die zum Wohl aller führt. Neigung und Pflicht können zusammenfallen, müssen es aber nicht. Wer will schon jeden Morgen um sechs Uhr aufstehen, um die zu versorgen, die ihm anvertraut sind? Wer will viele Stunden am OP-Tisch stehen, wenn ein Mensch um sein Leben ringt? Wer will den Müll fortschaffen, den andere produzieren? Und so weiter und so fort.

Dafür braucht es einen guten Willen, der in der Pflicht begründet ist. Das hat seine Grenzen, vor allem wenn dieses Gefühl missbraucht wird oder sich verselbstständigt. Und hin und wieder dürfen wir auch richtig unvernünftig sein und auch mal unsere Pflicht vergessen. Alles andere wäre unmenschlich.

In einer früheren Version war im Zusammenhang mit der Werbung von Ariel die Rede. Ein Leser hat uns daraufhin gewiesen, dass die Gewissensfrage in der Lenor-Werbung gestellt wurde. Vielen Dank. Wir haben das verbessert.