Zehn Irrtümer über die Schulter

Viele Menschen leiden an chronischen Schulterschmerzen. Manche Therapien helfen nur kurzfristig. Wichtig ist, dass operative Eingriffe von Spezialisten durchgeführt werden.

Die Schulter ist ein geniales Gelenksystem, vielseitig beweglich und trotzdem sehr filigran gebaut. Aber es macht häufig Probleme. Wir haben einen Experten gefragt: Thilo Patzer war lange Oberarzt an der Uniklinik Düsseldorf und leitete dort die Schultersprechstunde; jetzt ist er Chefarzt an der Schön-Klinik in Düsseldorf-Heerdt. Wir haben ihn zu den zehn häufigsten Irrtümern gefragt, die über die Schulter in Umlauf sind.

Irrtum 1: Überkopf-Arbeiten sind nur für Maler anstrengend

Alle Arbeiten über Kopf sind komplex und mit einer belastenden Bewegung verbunden. Man kennt sie auch vom Werfen eines Balles, vom Federballspiel oder vom Kraulen im Schwimmbad. Hier sagt der Orthopäde Patzer: "Dies ist ein Muster aus Abduktion der Armes und einer Außenrotation, das auf Dauer zu einer Belastung der Sehnen und Gelenkkapsel der Schulter führen kann. Es kann hierbei durch ein einzelnes Makro-Trauma, aber auch durch wiederholte Mikro-Traumen zu einem Einriss oder einem Abscheren der Sehnen kommen. Zusätzlich wird die vordere untere Kapsel überdehnt und die hintere unten verkürzt, was zur Dysbalance des Schultergelenks führen kann." Sie lässt sich durch gezielte Eigenübungen und Physiotherapie verbessern. Patzer: "Sind Sehnen aber gerissen, können sie in einer Gelenkspiegelung genäht werden. Das ist sinnvoll."

Irrtum 2: Bei der Matratze muss die Schulter nicht einsinken können

Gerade bei Seitenschläfern sollte die Wirbelsäule im Lot liegen. Patzer sagt es genauer: "Kreuzbein, untere Lendenwirbelsäule, Brustwirbelsäule und Halswirbelsäule bis zum Kopf sollten in einer geraden Linie liegen. Die Wirbelsäule sollte nicht nach unten durchhängen (zu dickes Kopfkissen) und dadurch abknicken, aber auch nicht nach oben gebogen sein (durch kein oder ein zu dünnes Kopfkissen)." Wichtig für Männer mit breiten Schultern: "Gerade bei ihnen ist es wichtig, dass die Schultern soweit in die Matratze einsinken können und der Kopf so vom Kopfkissen gestützt wird, dass das Lot erreicht ist."

Irrtum 3: Es ist der Schulter egal, wo ich im Ehebett schlafe

Patzer: "Insbesondere bei einem Verschleíß des Schulter-Eck-Gelenks bereitet das Liegen auf der betroffenen Seite Schmerzen. Je nachdem, ob man lieber seinem Partner zugewandt oder abgewandt schlafen möchte, kann das Liegen auf der nicht betroffenen Seite angenehmer sein; deshalb kann der Wechsel der Seite sinnvoll sein." Mancher hält das für unmöglich, weil man sich an seine Schlafposition gewöhnt hat. Das ist ein Irrtum: Schläft ein Mensch plötzlich rechts statt links im Doppelbett, ändert sich automatisch auch die Schlafposition."

Irrtum 4: Gegen Verkalkung in der Schulter kann man nichts machen

Schulter-Experte Patzer weiß aus Erfahrung: "Sehnenverkalkung der Schulter betrifft eher Leute mittleren Alters. Durch eine Fehlsteuerung der Sehnenzellen wird anstatt Sehnengewebe unreifer Knochen gebildet und als Kalk in der Sehne eingelagert. Viele Patienten sind aber asymptomatisch: Sie haben Kalk in der Sehne, aber keine Beschwerden. Dann muss auch nichts unternommen werden." Und wenn der Kalk zu Entzündungen oder Reizungen des Schleimbeutels führt? "Dann sollte er entfernt werden. Kleine Kalk-Depots können gezielt unter Ultraschall-Kontrolle mit einer Stoßwellen-Therapie zertrümmert werden; sie werden dann vom Körper abgebaut. Vier Sitzungen sollten ausreichen." Und wenn das nicht zum Erfolg führt, weil zu viel Kalk da ist? Patzer: "Dann sollte der Kalk über eine Gelenkspiegelung abgesaugt bzw. entfernt werden."

Irrtum 5: Für Schmerzen sorgt oft eine Enge unter dem Schulterdach

Patzer: "Diese ominöse Enge des Schulterdachs wird überbewertet und insbesondere bei jüngeren Menschen fehlinterpretiert. In Fachkreisen wird diese Schulterdach-Enge nur sehr selten gesehen und therapiert." Aber in manchem MRT wird diese Enge doch genau beschrieben? Patzer: "Gerade im MRT kann man die Enge nicht sehen oder nicht präzise beurteilen, da jeder Patient im Liegen - also auch im MRT - eine gewisse Enge aufweist, weil der Oberarmkopf auch bei gesunden Schultergelenken nach oben gedrückt wird." Gibt es bessere Bildgebungen? "Eine knöcherne Einengung oder ein Sporn des Schulterdachs kann nur auf einer speziellen Röntgenaufnahme im Sitzen oder Stehen des Patienten beurteilt werden." Was ist denn dann für die Beschwerden verantwortlich? Patzer: "In den meisten Fällen, wo eine Enge falsch diagnostiziert und dann folglich auch falsch operiert wird, bereiten andere Strukturen wie etwa die durch das Schultergelenk laufende lange Bizeps-Sehne die Beschwerden."

Irrtum 6: Bei Arthrose sollte mit dem Gelenk-Ersatz gewartet werden

Patzer: "Das Abwarten ist bei einem Schultergelenk-Verschleiß auf keinen Fall zu empfehlen. Zum einen sind die Gelenkersatz-Operationen, wenn sie vom Spezialisten durchgeführt werden, mit einer großen Verbesserung der Beweglichkeit und einer Schmerzminderung verbunden. Zum anderen wird durch den fortschreitenden Gelenk-Verschleiß der sowieso schon im Vergleich zum Oberarmkopf viermal kleinere Pfannen-Knochen von dem Kopf abgerieben und verbraucht. Oftmals fehlt dann so viel Knochen, dass im fortgeschrittenen Stadium der Knochen mit Knochen aus dem Becken aufgebaut werden muss, was die Komplexität der OP erhöht und das Ergebnis verschlechtern kann." Wenn die OP frühzeitig durchgeführt wird, ist sie dann auch einfacher für den Operateur? "Ja, und das Ergebnis ist auch besser für den Patienten. Moderne Implantate bieten jedem Patienten eine individuelle Lösung."

Irrtum 7: Moderne Implantate sind viel zu kompliziert

Patzer: "Im Gegenteil. Heutzutage werden immer mehr schaft- und zementfreie ,Titan-Kronen' eingesetzt. Auch in der Schulter-Chirurgie gilt: Weniger ist mehr!"

Irrtum 8: Ein Sehnenriss der Schulter muss nicht genäht werden

Die Sehnen der Rotatorenmanschette der Schulter stabilisieren und zentrieren den Oberarmkopf im Schultergelenk. Risse der Sehnen entstehen meistens ohne Unfall durch degenerative Veränderungen. Patzer: "In den meisten Fällen heilen diese Risse nicht, sondern werden größer, was einen Funktionsverlust der Schulter mit sich bringt. Im späten Stadium kann es durch die fehlende Gelenkzentrierung dann zu einer Gelenkzerstörung im Sinne einer sogenannten exzentrischen Arthrose kommen. Je früher die Sehnenrisse diagnostiziert und über eine Gelenkspiegelung wieder repariert werden, desto geringer ist das Risiko, dass die Sehnen danach wieder reißen, gerade im höheren Alter, und desto besser ist die Funktion. Und was ist mit Kortison-Spritzen? Patzer: "Sie führen zwar zunächst zu einer Schmerzlinderung - im Sinne der berühmten Kanone, die auf Spatzen schießt -, schädigen das Sehnengewebe jedoch weiter. Daher sollten Kortison-Spritzen nur ein bis drei Mal durchgeführt werden. Das Wichtigste ist eine korrekte und frühe Diagnose-Stellung und dann die passende Therapie."

Irrtum 9: Eine OP am Schultergelenk sollte vermieden werden

Das Schultergelenk ist das beweglichste Gelenk des menschlichen Körpers. Das liegt daran, dass die Gelenkpfanne viermal so klein ist wie der Oberarmkopf. Zugleich gibt es ein komplexes Zusammenspiel der Gelenkkapsel, der Bänder und Muskeln, damit das Gelenk trotz aller Beweglichkeit stabil bleibt. Orthopäde Thilo Patzer: "An diesen Strukturen setzen dann auch die Erkrankungen an, es können sowohl Schäden am Knochen, an den Bändern, Sehnen und Muskeln entstehen, die dann operativ durch eine Gelenkspiegelung wieder repariert werden müssen. Jedem Patienten muss empfohlen werden, dass einen solchen Eingriff ein Spezialist durchführt."

Irrtum 10: Geigen ist nicht so strapaziös wie Malen und Tapezieren

Patzer: "Im Gegenteil. Da beim Musizieren mit Geige, Bratsche oder Cello und sogar beim Kontrabass beide Arme über lange Zeit komplizierte Bewegungen durchführen, können auch hier Überlastungen der Sehnen - insbesondere der langen Bizeps-Sehne - und der Kapsel der Schulter auftreten. Gewisse repetitive Stricharten im Bogenarm werden oftmals im Stakkato durchgeführt, was Druck auf das Schulter-eckgelenk ausübt und es reizen kann. Nicht grundlos spricht die Musikermedizin von der Streicher-Schulter."

(w.g.)
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