Wie sich Tinnitus leiser stellen lässt

Studien zeigen: Die Ursachen von Tinnitus liegen weniger im Ohr als im Gehirn. Und das bedeutet: Die üblichen Therapien bringen wenig. Aber es gibt gute Chancen, dass man das Leiden verlernt.

Colosseum! Die britische Jazzrockband wird Peter Eckner für immer in unangenehmer Erinnerung bleiben. Denn bei ihrem Konzert packte ihn vor 20 Jahren der Tinnitus. Was folgte, war ein Therapie-Marathon. Erst kamen blutverdünnende Infusionen, dann Magnesium, Ginkgo, Sauerstoffkammer, Psychotherapie, Manipulationen am Kiefergelenk, Akupunktur und ein Tinnitus-Masker, der einen Ablenkungston ins Ohr säuselt. Von einem Naturheiler ließ sich Eckner sogar brennende Kräuterkerzen ins Ohr stecken. Der Tinnitus blieb.

"Ich möchte nicht wissen, wie viel Geld ich bereits in all den Therapien versenkt habe", klagt der mittlerweile pensionierte Verwaltungsbeamte. "Und das alles nur, um morgens doch wieder von dem Mann im Ohr geweckt zu werden." Wobei aus dem aggressiven Klingeln mittlerweile wenigstens ein sanfteres Brausen geworden ist. "Doch das habe ich wohl eher meinem Gehirn als den Therapien zu verdanken", schwant Eckner.

Wenn das Gehirn nicht mehr

genug Informationen bekommt

Es ist keine abwegige Vermutung. Denn mittlerweile gehen Wissenschaftler davon aus, dass Tinnitus wohl seinen Ursprung im Ohr hat, dann jedoch wesentlich aus dem Gehirn gespeist wird. Demnach steht am Anfang die Zerstörung von Sinneszellen im Innenohr, beispielsweise durch Lärmtrauma, Infekte, Gifte oder auch eine Mangeldurchblutung infolge von starkem Stress. In der Folge bekommen die Neuronen, die in den akustischen Verarbeitungszentren des Gehirns den zerstörten Sinneszellen zugeordnet sind, keinen Input mehr. Und weil sie die plötzliche Stille schlichtweg nicht ertragen können, steigern sie ihre Erregbarkeit. Genauso, wie man am Radio den Lautstärkeregler aufreißt, um die Nachrichten deutlich besser hören zu können.

Nur dass eben aus zerstörten Hörzellen kein Signal mehr herauszuholen ist - außer jenem Grundrauschen, das in den akustischen Verarbeitungsbahnen des Nervensystems selbst produziert wird: Es kommt zum Tinnitus. Und zwar vor allem auf den Hörfrequenzen, die von den Zerstörungen im Innenohr betroffen sind. Wer also bei vier Kilohertz einen Hörverlust erlitten hat, dessen Tinnitus wird also wohl auch in diesem Wellenbereich funken.

Wichtig ist, dass der Patient die Geräusche bagatellisieren kann

Vorausgesetzt, es kommt überhaupt zum Ohrensausen. Denn wie Josef Rauschecker vom Georgetown University Medical Center in Washington ermittelt hat, ist das nicht immer der Fall: "Nur 20 bis 40 Prozent derjenigen, die einen lärmbedingten Hörverlust erlitten haben, entwickeln auch das nervtötende Ohrensausen". Das kompensatorische Aufreißen der Wahrnehmungskanäle allein kann also den Tinnitus nicht erklären.

Rauschecker zufolge muss man auch die Fähigkeit des Gehirns berücksichtigen, die Ohrgeräusche als bedeutungslos zu erkennen - denn niemand stirbt davon - und sie zu ignorieren. Die dafür zuständigen Bagatellisierungsareale sitzen in der vorderen Großhirnrinde, die in enger Verbindung zum limbischen System und damit der emotionalen Bewertung steht. Doch diese Areale sind, wie Rauschecker in Zusammenarbeit mit Neuro-Wissenschaftlern der TU München ermittelt hat, bei Tinnitus-Patienten nur relativ schwach ausgeprägt. Dadurch fehlt ihnen die Fähigkeit zur Rauschunterdrückung.

Tinnitus hat also seine Ursprünge mehr zwischen den Ohren als in den Ohren selbst. Experten sehen deshalb die therapeutische Zukunft vor allem in hirnphysiologischen oder psychologischen Verfahren. Wie etwa in der transkraniellen Magnetstimulation, in der das Gehirn magnetischen Feldern ausgesetzt wird. In einer Studie der US-Veteranen-Behörde setzte man 64 Patienten entweder einem niederfrequenten Magnetfeld aus, oder aber man ließ - ohne dass es Patient und behandelnder Arzt wussten - das entsprechende Gerät ausgeschaltet. Den tatsächlich behandelten Probanden ging es danach deutlich besser, und das sogar noch 28 Wochen nach dem Therapieende. Als Wirkursache wird vermutet, dass die niederfrequenten Magnetwellen das Hörzentrum im Gehirn beruhigen.

Neurofeedback hilft,

die Geräusche auszublenden

Der Neurobiologe Niels Birbaumer von der Universität Tübingen untersucht derzeit, wie Tinnitus-Patienten per Neurofeedback lernen können, ihre Ohrgeräusche auszublenden. Der Patient kann dabei durch bildgebende Verfahren wie EEG oder Magnetresonanz seinem Gehirn bei der Arbeit zusehen und auf diese Weise trainieren, die Aktivität bestimmter Hirnareale herunter- oder heraufzufahren. "Am Ende soll er die Arbeit seines Gehirns so kontrollieren können, dass der Tinnitus in seiner Wahrnehmung keine Rolle mehr spielt", erklärt Birbaumer.

Ein ähnliches Ziel verfolgt auch die kognitive Verhaltenstherapie. Denn oft ist man im Alltag - relativ zum Ohrensausen - weitaus größerem und unangenehmerem Lärm ausgesetzt, den man jedoch nicht wahrnimmt, weil er nicht als Bedrohung empfunden wird. Und genau diese Ignoranz soll nun in der Verhaltenstherapie in Bezug auf den Tinnitus erlernt werden, beispielsweise dadurch, dass man negative Einstellungen zu ihr ("Warum ausgerechnet ich?", "Tinnitus ist ein Infarkt im Innenohr") abbaut. Die Ohrgeräusche werden dadurch zwar nicht leiser, aber sie lassen sich besser aushalten.

Studien der letzten Jahre geben Hinweise auf eine Wirksamkeit der "auditorischen Stimulation". Dabei hört der Patient seine Lieblingsmusik, nur dass dabei jene Frequenzen herausgefiltert wurden, auf denen sein Tinnitus funkt. Auf diese Weise soll das Gehirn zur Erkenntnis geführt werden, dass es die Wahrnehmung der betreffenden Töne nicht mehr braucht und die zuständigen, überaktiven Zellen im Hörzentrum zurückfahren kann. Seit kurzem gibt es diese Anwendung auch als App fürs Smartphone, und die Techniker-Krankenkasse hat in einem Hamburger Modellversuch sogar schon die Behandlungskosten übernommen.

Für Peter Eckner ist die Musiktherapie allerdings keine Option, denn er hat Musik als Auslöser seiner Ohrgeräusche erlebt. Sein aktuelles Projekt ist die Neuraltherapie. Dabei werden lokale Betäubungsmittel an so genannten Störfeldern injiziert. Sein Arzt sagte ihm, dass dabei eine Art "Reset" der irritierten Nerven und Hirnareale angestrebt würde. Zwei Injektionssitzungen hat Eckner schon hinter sich, und er meint, dass sich sein Ohrensausen verändert hätte.

Aber das hat er schon öfter geglaubt.

(RP)
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