Wie dünn darf Blut sein?

Wenn Ärzte Patienten mit Thrombose-Risiko oder Vorhofflimmern behandeln, müssen sie die Blutgerinnung hemmen. Dabei treten diverse Probleme auf.

Die Geschichte von Marcumar beginnt mit toten Kühen. Vor rund 80 Jahren analysierten Forscher mysteriöse Todesfälle auf US-amerikanischen Weiden und entdeckten dabei, dass die Rinder einen pilzbefallenen Klee gefressen hatten, der blutverdünnende Cumarine (einen Pflanzenstoff mit eigentümlichem, angenehm würzigem Geruch) enthielt und sie innerlich verbluten ließ. Was den Gedanken nahelegte, es mit diesen Stoffen - wohlgemerkt in angepasster Dosierung - doch in der Behandlung von Patienten mit schwachem Blutfluss zu versuchen. Also begann man in den 1950ern mit synthetischen Herstellung und Verfeinerung dieser Substanzen, und es entstand: Marcumar. Es wurde zu einer der großen Erfolgsstorys der Pharmazie - und das, obwohl kaum etwas komplizierter in der Handhabung ist als dieses Medikament.

Ein Urlaub mit Durchfall

kann Marcumar beeinträchtigen

Denn seine Wirkung besteht darin, dass die Leber aus Vitamin K keine funktionstüchtigen Gerinnungsfaktoren mehr bildet. Das Problem dabei: Der Vitamin-K-Stoffwechsel ist starken Schwankungen unterworfen. So hängt er beispielsweise von den Leberfunktionen ab, aber auch Ernährung und Darmflora spielen eine große Rolle. "Eine Diät oder ein Urlaub mit Durchfall oder verändertem Speiseplan können schon ausreichen, den Vitamin-K-Haushalt und damit die Wirkung von Marcumar unberechenbar zu machen", erklärt Hämatologe Jan Beyer-Westendorf vom Uni-Klinikum Dresden. Man kann es also nicht einfach schlucken wie jede andere Pille. Der Patient muss anfangs täglich, später mindestens einmal pro Monat zum Arzt, der dann überprüft, wie dünnflüssig das Blut tatsächlich geworden ist.

Hinzu kommt das Risiko von Hirnblutungen, die selbst dann auftreten können, wenn der Patient stabil eingestellt ist. Das Gehirn ist normalerweise durch ein besonders aggressives Gerinnungssystem vor Blutungen geschützt, weil es wegen der Enge des Schädels keinen Platz zum Ausweichen hat, so dass schon kleine Schwellungen einen Druck aufbauen könnten, der zu schweren Gewebeschäden führt. "Genau dieses System wird aber durch Marcumar ausgeschaltet", betont Beyer-Westendorf. Mit der Folge, dass sich das Gehirn gegen Lecks in den Gefäßen nicht optimal wehren kann. Marcumar zählt zu den großen Risiken einer gefährlichen Hirnblutung.

Dieses Problem wird nun mit den Noaks, den sogenannten Neuen Antikoagulanzien, weitaus effektiver gelöst. Deren gerinnungshemmende Wirkung ist zwar insgesamt nicht stärker, dafür aber differenzierter als die von Marcumar. Denn sie lassen das Blutgerinnungssystem im Gehirn weitgehend in Ruhe, da sie die Gerinnungsfaktoren 2 oder 10, nicht aber den für das Gehirn wichtigen Faktor 7 hemmen. Der Patient muss also weiter damit rechnen, dass er länger blutet, wenn er sich etwa mit dem Messer geschnitten oder einen Kratzer beim Sport geholt hat. "Doch die lebensbedrohlichen Blutungen im Gehirn treten im Vergleich zu Marcumar nur halb so oft auf", betont Beyer-Westendorf, der auch bei der Deutschen Gesellschaft für Angiologie (DGA) in der Versorgungsforschung arbeitet.

Ein weiterer Vorteil der Noaks: Ihre Wirkung setzt bereits zwei bis vier Stunden nach der Einnahme ein und verschwindet nach Absetzen oder Pausieren innerhalb von ein bis Tagen. Im Unterschied dazu beginnt der Effekt von Marcumar erst nach 38 bis 72 Stunden, und er kann dann sieben bis 14 Tage andauern. "Man stelle sich diese lange Nachwirkung bei einem Patienten vor, der eine Hirnblutung wegen des Medikamentes erlitten hat und bei dem jede Stunde zur Rettung zählt", so Beyer-Westendorf.

Zudem erschwert die lang gezogene Wirkungskurve die Dosierung des Mittels. Ganz zu schweigen davon, dass man den Patienten nicht mal eben operieren kann, sondern das Marcumar etwa eine Woche vorher absetzen und die Wartezeit bis zur OP durch Heparinspritzen überbrücken muss. "Dieses sogenannte Bridging kann in der Regel entfallen, wenn der Patient auf ein Noak eingestellt ist", betont Beyer-Westendorf. Denn dessen Wirkung lasse bereits nach sechs bis zwölf Stunden deutlich nach.

Bei einem Unfall muss ein schnell wirkendes Gegenmittel her

Bleibt die Frage, was passiert, wenn der medikamentös eingestellte Thrombose-Patient einen schweren Unfall erlitten hat und stark blutet. Denn in diesem Falle muss ein schnell wirkendes Gegenmittel her, ein so genanntes Antidot, um die Gerinnung wieder in Gang zu bringen. Bei Marcumar wäre das logischerweise Vitamin K, das jedoch erst nach zwei bis drei Tagen zu wirken beginnt, so dass in einem Notfall dann doch wieder aggressivere Gerinnungsaktivatoren zum Einsatz kommen müssen. Bei den Noak hatte man lange Zeit kein Antidot, was naturgemäß die Skepsis ihnen gegenüber verstärkte. Doch mittlerweile gibt es für das Noak Pradaxa bereits ein schnell wirkendes Gegenmittel, und für andere Produkte wie Xarelto und Eliquis ist bald ebenfalls damit zu rechnen.

Jedes der Medikamente hat Vor- und Nachteile

Die Noaks sind im Vergleich zu Marcumar risikoarm und einfach in der Handhabung. Sie wurden daher kürzlich von der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie in die Behandlungsleitlinien für das Vorhofflimmern aufgenommen. Denn bei dieser Erkrankung droht dem Patienten zwar, aufgrund des Blutstaus im Vorhof, ein Gerinnsel im Herz, das von dort nur einen kurzen Weg zum Gehirn hat, um sich darin festzusetzen und einen Schlaganfall auszulösen. Doch diese Bedrohung spürt der Betroffene ebenso wenig wie irgendein ein anderes Symptom seiner Krankheit, und das senkt natürlich eine Bereitschaft, sich der strengen Disziplin einer - zudem noch riskanten - Marcumar-Therapie zu unterziehen.

Nichtsdestoweniger betont Beyer-Westendorf, dass Marcumar keineswegs vor dem Aus stehe. Denn es gebe Patienten, beispielsweise mit künstlichen Herzklappen, die eine "sehr scharfe gerinnungshemmende Therapie" bräuchten. Andere haben nur noch schlecht funktionierende Nieren, so dass für sie ein Noak nach derzeitigem Kenntnisstand nicht in Frage kommt. Für sie ist der blutverdünnende Klassiker immer noch ein Mittel der ersten Wahl.

Nicht zu vergessen, dass einige Patienten gute Erfahrungen damit hätten und nicht auf ein neues Medikament wechseln wollen. Das müsse man ernst nehmen, betont Beyer-Westendorf. "Denn letzten Endes kann jede Therapie nur funktionieren, wenn der Patient mitzieht."

(RP)
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