Der Fall Vincent Lambert „Die Regenerationspotenziale des Gehirns sind weitaus größer, als viele glauben“

Reims · Ein Pariser Berufungsgericht urteilt: Der berühmte Koma-Patient muss am Leben gehalten werden. Der Fall lenkt den Blick auf eine Grenzsituation menschlichen Lebens, die in Deutschland derzeit etwa 10.000 Patienten erleiden.

 Ein Bild aus dem Jahr 2014 mit Wachkoma-Patient Vincent Lambert und seiner Mutter.

Ein Bild aus dem Jahr 2014 mit Wachkoma-Patient Vincent Lambert und seiner Mutter.

Foto: dpa/L'union De Reims

Eigentlich müsste er tot sein. Oder zumindest kurz davor. Denn am Montag kappte man am Uni-Klinikum Reims dem Koma-Patienten Vincent Lambert die künstliche Ernährung. Wobei man ihm, wie man in einer E-Mail mitteilte, „tiefgehend und kontinuierlich“ Beruhigungsmittel verabreichte, um sein Leiden zu minimieren. Doch seine Eltern nahmen das nicht hin. Sie zogen erst vor den Europäischen Gerichtshof, wo man ihre Berufung ablehnte, und dann vor ein Pariser Berufungsgericht, wo man anordnete, dass ihr Sohn „mit allen Maßnahmen“ am Leben gehalten werden müsse. Denn es gehe um den Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen. Seit Dienstag wird Lambert wieder künstlich ernährt.

Es ist nicht das erste Mal, dass man die lebenserhaltenden Maßnahmen für Lambert zunächst abstellte, um sie dann, nach einem entsprechenden Gerichtsurteil, wieder einzuschalten. Er liegt seit über zehn Jahren im Koma, und seit etwa sechs Jahren streitet seine Familie darüber, wie man mit ihm verfahren sollte. Seine Frau und sechs seiner Geschwister plädieren dafür, seine künstliche Ernährung abzuschalten und ihn würdevoll sterben zu lassen. Nachvollziehbare Argumente haben beide Seiten; doch die Wissenschaft steht diesmal eher auf Seiten der Religion.

So betonen die Befürworter der Sterbehilfe, dass sich Lamberts Zustand in den letzten Jahren nicht gebessert hätte und es höchstwahrscheinlich auch nicht tun würde. Am Anfang seines Wachkomas zeigte er zwar noch Anzeichen eines „minimalen Bewusstseins“, er öffnete also immer mal wieder die Augen und reagierte auf Reize, doch mittlerweile scheint er endgültig verstummt zu sein. Ein vom Gericht bestellter Neurologe konstatierte schon 2013, dass Lambert in einen „irreversiblen vegetativen Zustand“ abgedriftet sei. Was konkret heißt: Sein Bewusstsein ist erloschen, und daran wird sich auch nichts mehr ändern.

Doch der Tübinger Neurobiologe Niels Birbaumer hält beide Aussagen für „unwissenschaftlich und spekulativ“. Denn niemand könnte sagen, was tatsächlich unter der Schädeldecke des Koma-Patienten passiert und ob da nicht noch ein Denken und Empfinden stattfindet. Und wenn er nach einigen Jahren verstummt, könne das auch daran liegen, dass sich kaum jemand ernsthaft bemüht hat, mit ihm in Kontakt zu treten. Bei Lambert versuchte man vier Jahre nach dem Unfall, mit ihm einen Kommunikationscode, beispielsweise über Augenblinzeln, zu erarbeiten. Der Versuch schlug fehl. Was laut Birbaumer kein Wunder ist, „weil man den Mann vorher vier Jahre lang im kommunikativen Nichts verkümmern ließ“. Vermutlich könnte man nur noch über so genannte Brain-Machine-Interfaces einen direkten Kontakt zwischen Lombards Gehirn und einem Computer herstellen und dadurch mit ihm kommunizieren.

Dass aber sein Gehirn insgesamt irreversibel verkümmert ist, wie vom Gutachter behauptet wurde, ist damit nicht gesagt. Im Gegenteil. Birbaumer schätzt, dass fünf Prozent aller Wachkoma-Patienten sich wieder erholen könnten, wenn man sie wirklich dabei unterstützen würde. Andere Neurobiologen wie der belgische Neurologe Steven Laureys gehen sogar von noch höheren Quoten aus.

Kürzlich gelang es einem Forscherteam der Yale School of Medicine in New Haven, Schweinehirne wieder zum Leben zu erwecken, die man vier Stunden zuvor am Schlachthof vom Körper der Tiere abgetrennt hatte. Von einem reanimierten Bewusstsein konnte zwar keine Rede sein, aber einige Neuronen und Synapsen waren tatsächlich wieder aktiv. „Die Regenerationspotenziale des Gehirns sind weitaus größer, als viele glauben“, betont Birbaumer. Der Neurobiologe weiß selbst von einem Koma-Patienten zu berichten, der, nachdem er fünf Jahre teilnahmslos im Bett gelegen hatte, plötzlich wieder die Augen aufschlug und zu sprechen anfing. Seine Ärzte und Angehörigen hatten zuvor mehrmals gefordert, ihm die künstliche Ernährung abzustellen und Sterbehilfe zu leisten.

Wobei Sterbehilfe natürlich schon anders zu beurteilen ist, wenn der Patient vorher schriftlich festgelegt hat, ob und wie er in bestimmten Situationen behandelt werden will. Lambert hat jedoch keine entsprechende Patientenverfügung hinterlassen. Seine Ehefrau betont zwar, dass er sich keine künstliche Verlängerung des Lebens wünschte und als Krankenpfleger auch beurteilen konnte, was diese Entscheidung bedeutet. Doch ein von ihm selbst verfasstes Schriftstück hätte natürlich schon eine größere Überzeugungskraft.

Einige seiner Pfleger wollen bei ihm Verhaltensweisen beobachtet haben, die darauf schließen lassen, dass er mit den lebenserhaltenden Maßnahmen nicht einverstanden sei. Doch das kann wiederum einen Experten wie Niels Birbaumer nicht überzeugen: „Wie erkenne ich denn ein lebensverneinendes Verhalten bei jemandem, dem bescheinigt wurde, dass er völlig verstummt ist?“

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