Kampf gegen Streptokokken Warum die Angst vor Penicillin gefährlich ist

Düsseldorf · Bei Mandelentzündungen oder Scharlach sind Streptokokken im Spiel. Oft werden sie mit Breitband-Antibiotika behandelt statt mit Penicillin. Das ist problematisch, sagen Experten. Außerdem: Viele Penicillin-Allergien sind in Wirklichkeit gar keine.

Mikroskopaufnahme von A-Streptokokken, dem Scharlach-Erreger. Penicillin ist das wirksamste Medikament.

Mikroskopaufnahme von A-Streptokokken, dem Scharlach-Erreger. Penicillin ist das wirksamste Medikament.

Foto: Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung/Rohde

Immer ist es lohnend, sich mit dem Wesen von Bakterien zu beschäftigen. Diesmal machen wir dabei die Bekanntschaft zweier ungewöhnlicher Leute. Der eine ging unter anderem in die Geschichte ein als der Pianist, der die erste Cello-Sonate von Johannes Brahms uraufgeführt hat. Die andere verewigte sich, weil sie eine Pionierin im Bereich der kleinsten Dinge war.

Der Pianist hieß Theodor Billroth, war im Hauptberuf Arzt – und als Chirurg (etwa wegen seiner Kompetenz bei Magenoperationen) eine Koryphäe. Noch heute spricht man von den beiden „Billroth-Resektionen“ bei Magenkrebs. Die Medizin verdankt ihm aber auch die Entdeckung der Streptokokken. Sie zählen zur großen Familien der Kokken – Bakterien, die wie Kugeln oder Eier aussehen. Wenn sie sich in Haufen versammeln, nennt man sie Staphylokokken. Streptokokken kommen in Ketten daher. Die in Zweiergruppen angeordneten Pneumokokken zählen ebenfalls zu den Streptokokken.

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Foto: Shutterstock/Tomsickova Tatyana/Tomsickova Tatyana

Diese Bakterien bewohnen wie die meisten anderen Keime unseren Körper durchaus friedlich. Manchmal aber überfluten sie bestimmte Regionen, setzen sich durch, durchdringen die Haut, die Schleimhaut und andere Barrieren (etwa durch eine Verletzung) und gelangen in einen normalerweise sterilen Bereich des Körpers. Dann wird es kritisch. Streptokokken unterscheidet man unter anderem nach ihrer Kraft, den roten Blutfarbstoff aufzulösen (Hämolyse). Von Beta-Hämolyse spricht man, wenn sie den roten Blutfarbstoff vollständig abbauen.

Und nun kommt jene Pionierin der kleinsten Dinge ins Spiel. Ihr Name: Rebecca Lancefield. Die kluge und durchaus energische Mikrobiologin aus New York nahm sich die beta-hämolysierenden Streptokokken genauer vor, untersuchte sie nach ihren Eigenschaften und teilte sie in Gruppen ein, von A bis T. Für uns Menschen sind viele gar nicht problematisch (eher für Hunde, Katzen, Schweine oder Rinder), andere aber schon: Sie verursachen Karies an den Zähnen (häufig), Entzündungen an der Herzinnenhaut (selten) oder Kindbettfieber (noch seltener).

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Foto: University of Surrey

Direkt der Buchstabe A der Lancefield-Einteilung hat es aber in sich. A-Streptokokken rufen Entzündungen der Mandeln, des Mittelohrs und des Rachens hervor. Auf den oberen Hautschichten können sie außerdem ein Erysipel verursachen (eine Entzündung mit glänzender, deutlich begrenzter, oft schmerzhafter Rötung) oder eine Phlegmone (ebenfalls eine Infektion der Haut mit Überwärmung, bläulich-roter Färbung, Krankheitsgefühl und Bildung von Eiter, die unbehandelt in tiefere Schichten vordringen kann).

Und: A-Streptokokken verursachen Scharlach. Bis das Penicillin auf die Bühne trat, war diese Infektionskrankheit bei Kindern weitverbreitet. Sie verursacht Fieber, Halsschmerzen und rote Hautausschläge, auch die berüchtigte Himbeerzunge (die auch Theodor Billroth erwähnte) und kann im Extremfall sogar zum Tod führen, etwa durch einen toxischen Schock. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts galt sie als besiegt, doch jetzt ist sie zurück. In jüngster Zeit haben sich die Fallzahlen in manchen Regionen der Welt um das Fünffache erhöht, sagt Stephan Brouwer von der University of Queensland. Warum das so ist, haben er und andere Wissenschaftler im Fachmagazin „Nature Communications“ dargelegt.

Der Erreger aus der Familie der Streptokokken, nämlich Streptococcus pyogenes, hat Gene von Viren übernommen, die Bakterien befallen. Deren „Superantigene“ machen ihn „toxischer, infektiöser und resistent gegen einige gängige Antibiotika“, wie auch das Magazin „Scinexx“ in einem Essay schreibt. Die „Superantigene“ führen zudem „zu einer Überaktivierung von Abwehrzellen und einer massiven Ausschüttung von Entzündungsbotenstoffen wie Zytokinen“.

Das kann man auf der Landkarte nachverfolgen. So besitzt die Mehrheit der Streptococcus-pyogenes-Varianten aus Asien zwei neue Superantigene, SSA und SpeC, die diese Bakterien offenbar neu von den viralen Prophagen übernommen haben. Dadurch werden sie zu gefährlichen Rivalen des menschlichen Immunsystems: „Wir haben gezeigt, dass Streptococcus pyogenes durch diese erworbenen Toxine seine Wirte besser kolonisieren kann und dass er sich dank ihnen gegen konkurrierende Bakterienstämme durchsetzt“, berichtet Brouwers Kollege Mark Walker. „Dadurch haben diese bakteriellen Turbo-Klone unsere modernen Scharlach-Ausbrüche ausgelöst.“ Außerdem tragen diese sozusagen viral infizierten Streptokokken Resistenzen gegen Tetrazykline und Makrolide in sich – beides sind Antibiotika-Klassen, die in manchen Ländern häufig gegen Atemwegserkrankungen verabreicht werden.

Mark van der Linden leitet das Nationale Referenzzentrum für Streptokokken an der Uniklinik RWTH Aachen. Er weist gegenüber unserer Zeitung darauf hin, dass sich der „vor allem in Asien beobachtete Anstieg von Scharlach bisher nicht bei uns findet“. Der Biochemiker warnt auch vor Panikmache bei Scharlach: „Über die Jahre gab es immer wieder Schwankungen. Grundsätzlich war und ist die Inzidenz aber stabil. In den vergangenen beiden Jahren waren die Zahlen wegen der Sars-Cov-2-Pandemie eher niedrig, weil die Schutzmaßnahmen offenbar auch gegen Streptokokken wirkten. Nun steigen sie langsam wieder auf das Vor-Pandemie-Niveau an.“ Wichtig sei aber zu wissen, so van der Linden, dass Scharlach in Deutschland keine meldepflichtige Erkrankung sei. Es gibt sicher eine Dunkelziffer.

Die Experten sind sich einig, nicht nur was Scharlach betrifft: Penicillin sollte das Mittel der Wahl gegen A-Streptokokken bleiben. Der Wirkmechanismus des Medikaments ist perfekt geeignet, den Entzündungsverlauf zu stoppen. Penicilline wirken bei der Zellteilung zerstörerisch, denn sie schwächen den Neuaufbau der Zellwand so effektiv, dass sie bei Belastung platzt. Insbesondere für sogenannte grampositive Bakterien wie die A-Streptokokken ist Penicillin die perfekte Waffe. Es muss allerdings in der Regel einige Tage länger genommen werden als andere Antibiotika. Die aktuellen Lieferprobleme will das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte lösen.

Ernst Molitor, Oberarzt am Institut für Medizinische Mikrobiologie des Universitätsklinikums Bonn, weist ebenfalls auf die Wichtigkeit einer schnellen und genauen ärztlichen Strategie hin: „Entscheidend für die Vermeidung ernster Komplikationen sind eine verzögerungslose Diagnose und antibiotische Behandlung, die zudem ausreichend lange erfolgen muss.“ Impfstoffe gegen A-Streptokokken seien in Entwicklung, aber noch nicht verfügbar, sagt Molitor. „Da ein Teil der schwer verlaufenden Streptokokken-pyogenes-Infektionserkrankungen als Komplikation einer Virusinfektion auftritt, bieten die verfügbaren Impfungen gegen Influenza und Windpocken auch gegen ernste Erkrankungen durch A-Streptokokken einen gewissen Schutz.“

Apropos Penicillin: Van der Linden rät, dass sich jeder Mensch, der an einer angeblichen Penicillin-Allergie leidet, einmal professionell testen lassen sollte. Oft bestehe sie nämlich gar nicht. Ein Team um den Allergologen Arthur Helbling vom Universitätsspital Bern ist dieser Sache einmal nachgegangen. Die Ergebnisse der Forscher sind eindrucksvoll, wie sie im „Swiss Medical Forum“ schreiben: „Etwa 10 Prozent der Patienten erwähnen bei der ärztlichen Untersuchung, unter einer Penicillin-Allergie zu leiden. Die Mehrheit von ihnen, nämlich 85 bis 90 Prozent, vertragen im Fall einer Behandlung Penicilline und andere sogenannte Betalaktam-Antibiotika jedoch gut.“ Potenziell gefährliche Reaktionen träten lediglich ein bis zwei Mal pro 10.000 Penicillin-Verabreichungen auf. Auch US-amerikanische Studien haben bestätigt, dass Penicillin-Allergien deutlich seltener sind als angenommen.

Wenn bei Erwachsenen oder Kindern eine Entzündung durch A-Streptokokken nicht mit Penicillin (oder dem verwandten Amoxicillin) in Tabletten oder Säften behandelt wird, sondern mit einem Breitband-Antibiotikum, fördert das ungewollt eine gefährliche Entwicklung: Antibiotika-Resistenzen. Jedes Jahr sterben allein in den Ländern der Europäischen Union etwa 25.000 Menschen an schweren Infektionen mit resistenten Bakterien. Und wie werden sie resistent? Nun, von den massiven Attacken durch allzu leichtfertig verordnete Breitband-Antibiotika werden auch unbeteiligte Bakterien, häufig im Darmtrakt, betroffen. Auf diesen Beschuss antworten sie mit einem raffinierten Trick: Sie entwickeln eine Art genetische Hornhaut, die sie unempfindlich macht gegen Antibiotika.

Manche Begegnung mit Scharlach fällt übrigens harmlos aus, und es sind auch keine Streptokokken im Spiel. Ein Mädchen wurde vielmehr auf den Vornamen Scarlett getauft. Das heißt übersetzt einfach nur „scharlachrot“.

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