Sprechstunde Claudia Sies Wenn die Frau mehr verdient als der Mann

Neuss · In der psychotherapeutischen Praxis geht es häufig um tiefe eheliche Konflikte.

Unser Leser Jan Z. (43) aus Heiligenhaus schreibt: "Mit meiner Frau bin ich eigentlich bisher sehr glücklich gewesen. Aber seit zwei Jahren verdient sie nun erheblich mehr als ich. Zunächst freute ich mich sehr für sie und über ihren Erfolg. Geld war nie ein Thema zwischen uns beiden gewesen. Seit einiger Zeit jedoch vermittelt sie mir das Gefühl, dass ich auf ihre Kosten lebe, und unterstreicht dies mit bissigen Bemerkungen. Das stört mich sehr und macht sie mir nun oftmals unsympathisch."

Claudia Sies Das Phänomen, dass Frauen mehr verdienen als Männer, tritt erst heutzutage vermehrt auf. Früher war es eher selten und sogar oft ein Grund, eine Frau nicht zu heiraten. Und wer weiß wie oft dies heute noch so ist!? Was ist das Problem? So modern wir uns heute auch fühlen, ist es doch nicht so leicht, die alten gelernten Rollenverteilungen wirklich über Bord zu werfen. Was über Jahrhunderte gelernt wurde, hat sich tief in unserem Unbewussten verankert und ist nicht nur durch den Verstand zu verändern. Man muss sich schon als Paar tiefer damit auseinandersetzen, die alten Klischees in die neuen Lebensformen zu verwandeln.

Auch Frauen müssen erst einmal lernen, damit zurechtzukommen, wenn der Mann nicht mehr für den Großteil des Lebensunterhaltes aufkommt. Er muss auch mit geringerem Einkommen für sie seinen Wert behalten. Schafft die Frau diesen Übergang nicht, dann fängt sie an, an ihm herumzukritisieren, damit sie wieder in ihre alte Rolle zurück kann. Das heißt: Sie fängt an, ihn durch Kritik zu bedrängen, dass er mehr als sie verdienen solle. Und auch der Mann muss tiefer akzeptieren, dass sein Wert in der Beziehung nicht gleichbedeutend mit seinem Einkommen ist. Wie kommen beide aus dieser Zwickmühle heraus? In jedem Leben hat man die Aufgabe, sich nicht nur in der Welt der Zahlen und des "Machens" aufzuhalten. Denn dort geht es immer nur um vergleichen und konkurrieren: wer ist der bessere, wer kann mehr, wer hat mehr - oder weniger. Was soll es da noch geben, das einen aus dieser unerquicklichen Kampfzone herausführen könnte?

In jedem Leben geht es darum, aus der Zone des "Machens" auch in den Bereich des "Seins" wechseln zu können. "Machen" und "Sein" bedienen unterschiedliche Lebensbereiche. Beim "Machen" geht es um Dinge, die man zählen, wiegen und messen kann. Da ist man reich, wenn man "viel hat" (Geld, Besitz). Beim "Sein" spielen diese Dinge keine so große Rolle. Ab etwa 40 Jahren wird im menschlichen Leben dieser Bereich des Seins sowieso verstärkt entwickelt. Da geht es um Zustände wie Liebe, Zuverlässigkeit, Selbstwert und Reife - unabhängig von äußerem Reichtum. Die Partner könnten dieser natürlichen seelischen Entwicklung einfach nur vermehrt Beachtung und Vertrauen schenken.

Claudia Sies ist Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalytikerin in Neuss.

(RP)
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