Sexualität in der Popkultur „Dr. Sommer würde heute nicht mehr funktionieren“

Düsseldorf · Sexuelle Aufklärung findet nicht nur in der Schule statt – auch in Zeitschriften und Serien können Jugendliche vieles über Sexualität und Liebe lernen. Wir stellen die bekanntesten Sex-Formate vor und erklären, warum einige nicht mehr zeitgemäß sind.

Aufklärung in der Schule: Sexualkunde, Dr. Sommer und Mythen
Infos

Alle Texte zum Thema „Aufklärung in der Schule“

Infos
Foto: dpa/Oliver Berg

Als die Texte von „Dr. Sommer“ im Jahr 1969 erstmals in der Jugendzeitschrift „Bravo“ gedruckt wurden, war das nahezu revolutionär. Dr. Sommer – der eigentlich Dr. Martin Goldstein hieß und jahrelang in Düsseldorf lebte – beantwortete die drängenden Fragen jugendlicher Leser zu Sex, Liebe und dem eigenen pubertären Körper. Das Leserbrief-Format entwickelte sich zu einem der erfolgreichsten Aufklärungsformate der letzten Jahrzehnte.

Weitere folgten: Seit 2013 moderiert die Journalistin Paula Lambert die Sendung „Paula kommt“ auf Sixx. Sie gibt Paaren und Singles Tipps für ein erfülltes Sex-Leben, spricht über offene Beziehungen und Sex-Toys und interviewt Gäste zu ihren Vorlieben und Fetischen. Anders als der „Bravo“-Experte richtet Lambert sich auch an ein erwachsenes Publikum. Mittlerweile gibt es 13 Staffeln des Formats.

Was können Medien, was Schule nicht kann?

Heute findet sich jugendliche Sexualität überall wieder – ob in Zeitschriften, Serien oder in Erklär-Videos auf Social Media. „Medien liefern Identifikationsangebote“, sagt Moritz Stock. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Medienkommunikation und Gender Media Studies an der Universität Siegen und beschäftigt sich seit Jahren mit der Darstellung Jugendlicher und ihrer Sexualität in den Medien. Dort fänden Heranwachsende unterschiedliche Vorbilder, mit denen sie sich identifizieren könnten und die ihre eigene Identitätsbildung förderten. „Sie können sich dabei selbstständig und aus distanzierter Form mit dem Thema Sexualität auseinandersetzen und es auf sich wirken lassen, ohne dabei in einer Lernsituation mit anderen Mitschülern und Mitschülerinnen zu stecken.“

Würde „Dr. Sommer“ heute noch funktionieren?

„Dr. Sommer ist heute nicht mehr wirklich zeitgemäß, weil er eine erwachsene Stellvertreterfigur ist, die alles weiß und einem alles beibringt“, so der Medienwissenschaftler. Die Kommunikation zwischen ihm und den Lesern sei nicht auf Augenhöhe. Stock ist sich sicher: „Dr. Sommer würde heute nicht mehr funktionieren – höchstens in transformierter Weise.“ Als ein Beispiel nennt er TikTok, wo sich viele Nutzer in ihren Videos spielerisch mit sexuellen Themen befassten und dabei an der Lebensrealität der Jugendlichen orientierten.

Sexualität wird in den Medien heute realistischer dargestellt

Seitdem Dr. Sommer jungen Lesern erstmals mit Rat und Tat bei Tabu-Themen zur Seite stand, hat sich in der Gesellschaft viel getan: Heute werde Sexualität in Filmen und Serien moderner erzählt, meint Stock. „Sexszenen werden realistischer und detaillierter gezeigt, und Themen wie sexuelle Orientierung, sexuelle Vorlieben und Fetische werden offener diskutiert“, sagt Kai Müller, Dozent am Institut für Sexualpädagogik in Koblenz. Früher seien sexuelle Inhalte häufig versteckt oder nur angedeutet worden. Ebenso würden queere Geschichten heute mit einer größeren Selbstverständlichkeit erzählt, sagt Stock. Bis vor wenigen Jahren sei das noch ein Tabu gewesen: Noch Anfang der 2000er-Jahre habe der Produzent der US-Serie „Dawson’s Creek“ mit seiner Kündigung drohen müssen, um einen romantischen Kuss zwischen zwei Männern filmen zu dürfen, so der Medienexperte. Mit Erfolg: Der Kuss gilt weithin als erster homosexueller Kuss zweier Männer im amerikanischen Fernsehen.

Sexuelle Aufklärung: Was sich im Laufe der Zeit verändert hat
8 Bilder

Sexuelle Aufklärung – früher und heute

8 Bilder
Foto: Ullstein

Was Serien wie „Sex Education“ und „Euphoria“ besser machen

„Früher wurden hauptsächlich heterosexuelle Beziehungen und stereotype Darstellungen von Sex gezeigt“, sagt Sexualpädagoge Müller. „Die heutigen sexuellen Formate in der Popkultur sind tendenziell progressiver und realitätsnäher als früher.“ Die Gründe für diese Veränderung sieht er im gesellschaftlichen Wandel, feministischen Bewegungen und dem besseren Zugang zu Informationen. In den US-Serien „Sex Education“ und „Euphoria“ stehe Jugendsexualität stark im Fokus, sagt Stock. In „Sex Education“ geht es um Jugendliche, die sich an ihrer High School nicht als ausreichend aufgeklärt empfinden – und ihre Mitschüler heimlich und anonym zu sexuellen Anliegen beraten. Masturbation, Verhütung und Orgasmen werden offen angesprochen und queere Identitäten sowie weibliche Lust bekommen eine Plattform. „Grundsätzlich gibt es heute eine stärkere Sensibilisierung für sexuelle Vielfalt“, sagt Stock. „Auch die Thematisierung sexuellen Begehrens von jungen Mädchen und Frauen hat sich geändert.“ Geschichten würden heute vermehrt auch aus weiblicher Perspektive erzählt.

Gibt es noch sexuelle Tabus in den Medien?

„Alles neben der ‚Mainstream-Sexualität‘ wird immer noch zu wenig gezeigt“, sagt Müller. Dazu zählten unter anderem Sexualität mit Behinderung, im Alter und Sexarbeit. Auch Medienexperte Stock sagt: „Man kann heute nicht problemlos alles darstellen.“ Besonders wenn es um weibliche Transpersonen gehe, beobachte er häufig noch einen „konservativen Backlash“.

Trotz der größeren Vielfalt in der Popkultur sei heutzutage längst nicht alles progressiv, betont er. „Auch heute haben wir sehr populäre Serien, wo sexuelle Beziehungen als etwas Bedrohliches und nicht Positives dargestellt werden“, erklärt der Medienwissenschaftler. Als Beispiel nennt er die Netflix-Serie „Tote Mädchen lügen nicht“, in der jugendliche Sexualität stark mit Gewalt kontextualisiert wird. „Man muss immer schauen, wie die Formate erzählt sind.“

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort
Das Sexikon
Themenschwerpunkt „Die nackte Wahrheit“ Das Sexikon