Pflegenotstand in Deutschland „Dann holen wir uns eben eine Polin“

Düsseldorf · Plötzlich ein Pflegefall in der Familie – dann ist die Not groß: Wer kümmert sich um Oma oder Opa? 24 Stunden lang? Viele Betroffene engagieren in solchen Fällen eine Haushaltshilfe aus Osteuropa – oft zu unfairen Bedingungen. Doch es gibt Alternativen.

 Immer mehr Familien engagieren für die Pflege eines Angehörigen eine Haushaltshilfe aus Osteuropa.

Immer mehr Familien engagieren für die Pflege eines Angehörigen eine Haushaltshilfe aus Osteuropa.

Foto: dpa/Christoph Schmidt

Die ersten Jahre in Deutschland verbrachte Marina in einem geräumigen, ziemlich düsteren Haus in einer niederrheinischen Kleinstadt. Unten lebte der Besitzer, der nach einem Schlaganfall nicht mehr gehen konnte, ein stiller Mann, dem es schwerfiel, von nun an untätig in seinen Garten schauen zu müssen. Die erste Etage bekam sie. „Der Mann lebte allein, war freundlich, aber sehr niedergedrückt“, sagt Marina. Nach einem Jahr wurde der Mann bettlägerig. Marina hat ihn gepflegt, gekocht, geputzt, gewaschen und seinen Hund versorgt. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Zwei Stunden pro Woche bekam sie frei. Sie bekam 1000 Euro im Monat, 100 Euro davon musste sie jeden Monat an den osteuropäischen Vermittler zahlen, der ihr die Stelle besorgt hatte. Und wenn sie alle zweieinhalb Monate für drei Wochen in ihre Heimat Ungarn fuhr, zahlte sie die Fahrten selbst.

„Ich habe mich aus Not darauf eingelassen“, sagt die Frau mit dem freundlichen, weichen Gesicht. Sie ist 51, hat ein Hochschuldiplom als Sprachlehrerin und in ihrer Heimat drei Kinder alleine großgezogen. Doch Chancen auf einen Job, der ähnlich viel Geld einbringen würde wie die Pflegestelle in Deutschland, hat sie in Ungarn nicht. „Für mich ist es schwer, nicht zuhause zu sein, ich habe Enkelkinder, die ich sehr liebe, und ich weiß, dass mir die Zeit, die ich mit ihnen verpasse, niemand zurückgeben kann.“

Marina, die ihren wahren Namen lieber nicht nennen will, ist eine von schätzungsweise 200.000 überwiegend osteuropäischen Frauen, die in Deutschland zu unfairen Bedingungen in der häuslichen Pflege arbeiten. Andere Schätzungen gehen sogar von bis zu 500.0000 sogenannter „Live-ins“ aus. Die meisten von ihnen haben keine Pflegeausbildung und sprechen nur dürftig Deutsch. Die wirtschaftliche Lage in ihren Heimatländern, die vor allem ältere Frauen trifft, macht sie zu Wanderarbeiterinnen, die sich auf nahezu jede Zumutung bei der Arbeit einlassen. „Sonst heißt es, dann kommt eine andere“, sagt Marina.

Manche der Frauen leben mit sehr wenig Privatsphäre, etwa ohne eigenes Bad, in der Wohnung des Pflegebedürftigen und trauen sich kaum aus dem Haus. „Wir haben schon Frauen beraten, denen die Familie das Essen rationiert hat oder die daran gehindert wurden, in den Sprachkurs zu kommen“, sagt Rosi Becker. Zusammen mit Sonja Hanrath leitet sie das Netzwerk „Respekt“ im Raum Heinsberg, das sich für die Rechte der illegalen Haushaltshelferinnen einsetzt. Sie beraten die Frauen, bieten Sprachkurse und Pflegeschulungen an. „Viele sind daheim Frührentnerinnen mit minimalem Einkommen. In Deutschland springen sie ins kalte Wasser und sind dann mit der Pflege etwa eines Demenz-Patienten, dessen Sprache sie nicht sprechen, völlig überfordert“, sagt Becker. Auch Marina hat keine Pflegeausbildung und fühlte sich anfangs überfordert. „Vor allem das viele Aufstehen in der Nacht war schwer“, sagt Marina. „Ich habe zehn Kilo verloren wegen der dauernden Anspannung.“

Die Schattenwirtschaft in der häuslichen Pflege gehört in Deutschland inzwischen zum System. Das bedeutet nicht nur Arbeitsbedingungen für die Helferinnen, die weit jenseits aller Normen des deutschen Tarifrechts liegen. Manchmal haben auch die Familien Angst, weil sie Scheinselbständigkeit unterstützen. Hinzu kommen sprachliche Schwierigkeiten mit einem Menschen, den eine Agentur geschickt hat, und der plötzlich Teil der Familie wird.

„Wenn ein Pflegefall eintritt, geraten viele Familien in Panik“, sagt Catharina Hansen, Pflegeexpertin bei der Verbraucherzentrale NRW, „dann erscheint es oft leichter, eine Hilfe aus Osteuropa zu engagieren, statt sich einen Versorgungsmix etwa aus Tagespflege, Pflegedienst und Haushaltshilfe zusammenzustellen.“ Hansen rät Betroffenen, parallel zum Antrag auf Pflegegradeinstufung bei den Pflegekassen eine Beratung, etwa bei den örtlichen Pflegestützpunkten, in Anspruch zu nehmen. „Darauf hat man einen gesetzlichen Anspruch, die Berater besuchen die Betroffenen auch daheim“, sagt Hansen.

Das berüchtigte Pflegeheim ist für viele Familien keine Alternative. Dabei kann es sinnvoller sein, sich in einem Heim weiter um einen schwer pflegebedürftigen Angehörigen zu kümmern, statt sich bei der Pflege daheim völlig aufzureiben. Gerade die Generation, die heute Pflege in Anspruch nimmt, hat aber oft ein Leben lang fürs eigene Heim gerackert. Entsprechend schwer fällt es diesen Menschen, ihr Heim im Alter aufzugeben. Und dann fällt irgendwann der Satz: „Dann holen wir uns eben eine Polin.“

Es gibt zahlreiche Agenturen, die osteuropäische Haushaltshilfen vermittelt. Im Schnitt kostet das 1500 bis 3500 Euro im Monat. Wer die Agenturen nutzt, handelt nicht illegal, allerdings verstoßen 24-Stunden-Betreuungen, mit denen oft geworben wird, gegen gesetzliche Arbeitszeit-Bestimmungen. Der Caritasverband für das Erzbistum Paderborn hat daher mit „Carifair“ eine Organisation gegründet, die osteuropäische Kräfte zu fairen Bedingungen vermittelt. Sie bekommen einen Arbeitsvertrag mit 38,5 Stunden-Woche und Urlaubsanspruch. Das kostet etwa 2400 Euro im Monat. „Im Prinzip kann auch jede Familie selbst einen Arbeitsvertrag mit einer ausländischen Helferin schließen“, sagt Catharina Hansen. Dazu muss man allerdings die sozialversicherungspflichtige Anmeldung und die finanzielle Abwicklung selbst vornehmen – ein Aufwand, den viele Menschen scheuen.

„Eine 24-Stunden-Betreuung daheim ist legal für die meisten Menschen nicht finanzierbar“, sagt Carina Frey, die mehrere Ratgeber zum Thema Pflege geschrieben hat. Sie rät, in der Familie frühzeitig über den Pflegefall zu sprechen und einen Plan zu entwickeln, wie mit dem Mix aus Familie, Nachbarschaftshilfe, Lieferservice und professionellen Pflegehilfen möglichst lange ein selbstbestimmtes Altwerden organisiert werden kann. „Am Ende kann aber auch ein Pflegeheim die beste Lösung sein“, sagt Frey, „ich habe mit so vielen ausgebrannten pflegenden Angehörigen gesprochen, dass ich meinen Eltern nicht versprechen werde, sie niemals in ein Pflegeheim zu geben.“

Marina arbeitet inzwischen in einer neuen Familie. Ihren eigenen Lebensabend möchte sie unbedingt daheim in Ungarn verleben. Doch bis sie sich den Ruhestand dort leisten kann, muss sie in Deutschland weiter pflegen. „Ich mache die Arbeit gern, ich hatte nie Großeltern und stelle mir immer vor, ich versorgte meine eigene Oma“, sagt Marina, „aber ich möchte nicht all die Jahre ohne Rentenanspruch gearbeitet haben.“ Darum hat sie diesmal nach einer legalen Beschäftigung gesucht. Die neue Familie hat ihr 1700 Euro Lohn und einen Arbeitsvertrag versprochen. Bekommen hat sie den Vertrag noch nicht.

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