Giftnotrufe Zahl der Giftnotfälle bei Kindern in NRW steigt

Bonn · Noch nie war die Anzahl der Anfragen in der Giftnotrufzentrale NRW so hoch. Die meisten Vergiftungen entstehen durch Medikamente oder gefährliche Flüssigkeiten.

 Achtlos abgestellte Medikamente sind die häufigste Ursache für Vergiftungen bei Kindern.

Achtlos abgestellte Medikamente sind die häufigste Ursache für Vergiftungen bei Kindern.

Foto: BAG Mehr Sicherheit für Kinder e.V.

Selbst als Erwachsene tut sich Caroline Heider manchmal schwer, den kindersicheren Verschluss an der Flasche mit Lederpolitur mit dem richtigen Druck und Dreh zu öffnen. Bis heute versteht sie nicht, wie es ihrer damals dreijährigen Tochter Lotte gelungen ist, mit den kleinen Händen den schwierigen Mechanismus zu öffnen.

Lotte spielte vergnügt in ihrem Zimmer, während ihre Mutter im Flur den Putzschrank mit dem Schuhputzmittel aufmachte. In der Küche kochte etwas über. Darum lief Caroline Heider dorthin und drehte die Temperatur der Herdplatte herunter. Eigentlich verging nur ein kurzer Augenblick, bis sie in den Flur zurückkehrte — doch dort saß die kleine Lotte bereits mit der geöffneten Flasche in der Hand. "Die war für meine Tochter unerreichbar in einem Beutel in Schrank aufgehängt. Ich weiß nicht, wie sie sie so schnell in die Finger bekommen und dann auch noch öffnen konnte", sagt Heider. Sofort roch sie an ihrer Kleinen und hatte den Verdacht, sie habe etwas von dem Mittel getrunken. Glücklicherweise hatte die Mutter die Nummer der Giftnotrufzentrale NRW in Bonn am Kühlschrank hängen.

Immer häufiger Angst vor einem Giftnotfall

Dort sitzen — wie auch in den sieben anderen Giftnotrufzentralen in Deutschland — rund um die Uhr mehrere Ärzte, um nach solchen Unfällen besorgte Anfragen entgegenzunehmen. Immer häufiger klingelt dort das Telefon. In den letzten Jahren ist in NRW die Zahl der Anrufe dramatisch gestiegen. "Im Jahr 2014 waren es 40.982 Anrufe", sagt Carola Seidel, stellvertretende Leiterin der Giftnotrufzentrale in Bonn. Das sind zehn Prozent mehr Giftnotrufe als noch 2013. "2015 hat es erneut eine leichte Steigerung gegeben auf 41.682 Anrufe", sagt die Expertin. Blickt man bis zum Jahr 1997 zurück, haben sich die Beratungszahlen verdoppelt, das kann man den Geschäftsberichten des nordrhein-westfälischen Giftinformationszentrums entnehmen. Auch ersichtlich wird dort, dass die meisten Anrufe wegen möglichen Vergiftungen bei Kindern eingehen: 2012 waren es 50 Prozent der Anrufe, 2013 stiegen die Vorfälle auf 51 Prozent. 2014 machten die Notrufe wegen Kindern schon 53 Prozent aller Telefonate aus. In den meisten Fällen handelt es sich um mögliche Vergiftungen bei Kleinkindern bis zu sechs Jahren. Der Jahresbericht für 2015 ist bislang noch nicht veröffentlicht.

Warum kindersichere Verschlüsse nicht kindersicher sind

Einen Grund für den Anstieg der Notrufe sieht Seidel in einer besseren Erreichbarkeit der Giftnotrufzentrale NRW. Ein anderer sei eine Häufung der Vorfälle: "Die Kinder haben Stanniolpapier gegessen, Pflanzenteile verschluckt, die Klobürste abgeleckt oder Autopflegemittel geöffnet", sagt die Expertin der Uniklinik Bonn. Kindersichere Verschlüsse stellen dabei kein Hindernis dar. "Viele Eltern wiegen sich in einer Pseudosicherheit. Denn als kindersicherer Verschluss gilt das, was maximal 20 Prozent der Kinder innerhalb von zehn Minuten öffnen können", sagt Seidel. So sieht es die entsprechende europäische Richtlinie vor.

Auch Caroline Heider glaubte an die Sicherheit des Verschlusses. "Wenn man feststellt, was passiert ist, rattert innerlich ein Film ab", sagt sie. "Wie konnte das Kind an die Flasche gelangen? Ist sie heruntergefallen? Wie ist Lotte so schnell dorthin gekommen?" Doch Mutter und Kind hatten Glück im Unglück. Der Dreijährigen ist nichts passiert. "Die Giftnotrufzentrale befand das Mittel in der getrunkenen Menge als unbedenklich."

Daran vergiften sich Kinder am häufigsten

Das ist nicht immer so. "In jedem zehnten Fall, der sich bei uns meldet, ist eine Behandlung erforderlich", sagt Seidel. Die Mehrzahl solch ernster Vergiftungsfälle wird durch Medikamente wie Betablocker oder Psychopharmaka ausgelöst. Auch Paracetamol-Vergiftungen kommen nach Informationen des Bundesinstituts für Risikobewertung häufiger vor, als man denkt. Auf Platz zwei der Liste der Vergiftungsursachen liegen Haushaltsreiniger, gefolgt von Pflanzen. "Maiglöckchen, Kirschlorbeer oder blauer Eisenhut gelten als sehr giftig", sagt Christian Seiwald, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundesarbeitsgemeinschaft "Mehr Sicherheit für Kinder" (BAG).

"Bei den Haushaltschemikalien sind Maschinengeschirrspülmittel, Entkalker, Allzweckreiniger, Rohr- und Sanitärreiniger am gefährlichsten für Kinder", so Seiwald. "Während Entkalker und Maschinentabs zwar häufig von Kindern eingenommen werden, aber weniger Schaden anrichten, verursacht Rohrreiniger die beinahe gefährlichsten Schäden", sagt die stellvertretende Leiterin des Giftnotrufs.

Oft wären all diese Unfälle vermeidbar. So wie bei Jakob. Zusammen mit seiner Mutter kam er vom Einkauf wieder. Der Dreijährige blieb im Flur sitzen, während seine Mutter die Einkäufe schnell wegräumte. Als sie aus dem Vorratsraum heraustrat, sah sie den Jungen, wie er sich eine Hand voll Düngerkügelchen in den Mund schob. "Ich habe mein Kind unterschätzt", sagt die Mutter. Nie hätte sie gedacht, dass der Kleine die Düngerdose, die in seiner Nähe stand, selber öffnen könne.

Das sind klassische Situationen, die die Mitarbeiter in den Giftnotrufzentralen täglich geschildert bekommen. "Im Alltag passiert es, dass die Mutter kurz abgelenkt ist, putzt, telefoniert. Oder jemand aus der Familie erkrankt, und es stehen Medikamente irgendwo herum", sagt Seidel. Auch wenn das Verspeisen des Pflanzendüngers für Jakob glimpflich zu Ende ging, ist es oft anders. 50 Kinder vergiften sich nach Informationen der BAG jeden Tag in Deutschland. Die Bandbreite der Symptome, die sich dann zeigen, ist breit und reicht von Durchfall über Erbrechen, Atemstörungen bis hin zu Herzrhythmusstörungen und Bewusstlosigkeit. Wie man richtig reagiert, um Kindern dann erste Hilfe zu leisten, sehen Sie in diesem Video der Universität Bonn:

"Niederländische Kollegen haben in einer Studie untersucht, was Kinder attraktiver finden, wenn sie die freie Wahl haben — Spülmaschinentabs oder Bauklötze, Fleckentferner oder eine Puppe", so erzählt Seiwald über eine Studie, deren Ergebnis sie hier im Video sehen können:

Mit einer versteckten Kamera filmten die Wissenschaftler die Kinder dabei, erfassten mit einem Eye-Tracker den Blickkontakt und ermittelten ihren Puls. Das schockierende Ergebnis: Bleiche, Fleckentferner und Farbe übten eine höhere Anziehungskraft auf die Kleinkinder aus, als altersgerechtes Spielzeug.

Warum Bitterstoffe in Mitteln nicht immer schützen

Aus diesem Grund mengen Hersteller ihren Produkten oftmals Bitterstoffe bei, die das Schlucken der Chemikalien abwenden sollen. Doch auch das schützt nur bedingt. "Der Geschmackssinn entwickelt sich erst innerhalb des zweiten Lebensjahrs", erläutert dazu Carola Seidel von der Giftnotrufzentrale. "Kleinkinder begreifen mit dem Mund. Sie stecken alles hinein." Einen seltsamen Geschmack, ein Brennen oder gar Schmerzen nehmen sie erst zeitverzögert wahr. Das macht es besonders gefährlich, wenn Chemikalien und Kosmetika so gelagert werden, dass sie problemlos von den Kindern zu erreichen sind. "Und das sind sie leider oft", führt Seiwald aus.

Ein Drittel der Verbraucher kennt Gefahrenpiktogramme nicht

"In einer Online-Umfrage haben wir ermittelt, dass Eltern Haushaltsreiniger gerne unter der Spüle lagern und WC-Reiniger meist neben der Toilette", sagt der Wissenschaftler der BAG. Oft sind sie zur Warnung mit speziellen Gefahrenzeichen wie Totenkopf, Explosion oder Flamme ausgezeichnet. "Doch nur etwa ein Drittel der Verbraucher kennt die Symbole, die nach dem europäischen Recht seit Juni 2015 auf Verpackungen von Haushaltsmitteln gedruckt sein müssen", sagt der Experte weiter. Zwar gab es ähnliche Symbole bereits vor dieser Zeit, doch sahen diese anders aus und waren auch in ihrer Bedeutung zum Teil anders.

(wat)
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