Die Rückkehr der Amme

Düsseldorf · Bis ins 20. Jahrhundert ließen Damen von Stand ihre Babys von fremden Frauen stillen. In Deutschland ist das heute passé. Doch in den USA und Großbritannien entwickelt sich ein neuer Trend: Fremd-Stillen ist wieder in.

Sarah Hastings ist eine erfolgreiche Business-Frau. Die 42-Jährige arbeitet in der Kommunikationsbranche. Als ihre Tochter Zoe auf die Welt kam, begann die Londonerin zwei Wochen nach der Geburt wieder zu arbeiten. Für Zoe engagierte sie eine Kinderfrau. Und die stillt das kleine Mädchen sogar.

Ammen scheinen wieder im Trend zu liegen. Wie die britische Zeitung "Daily Mail" berichtet, lassen nicht nur reiche Amerikanerinnen ihre Säuglinge von fremden Frauen stillen, sondern auch immer mehr Britinnen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Manche Frauen haben zu wenig Milch, um ihr Baby selbst stillen zu können. Andere wollen sofort nach der Geburt wieder arbeiten, haben keine Zeit, dem Kind immer dann die Brust zu geben, wenn es Hunger hat. Wieder andere fürchten um ihre Figur. Ihnen allen ist gemein, dass sie an die guten Inhaltsstoffe von Muttermilch glauben. Fertignahrung ist für sie keine Alternative.

Früher waren Ammen gang und gäbe, Fertigkost im Fläschchen gab es nicht. Frauen von Stand ließen ihre Kinder von fremden Frauen stillen. Das ist schon aus der Antike überliefert. Im Mittelalter wurden Kinder zwei Jahre gestillt — wenn eine Dame möglichst viele Kinder gebären sollte, musste sie also zwangsläufig ihr Kind zum Stillen abgeben. Aus dem Frankreich des 18. Jahrhunderts berichten historische Quellen, dass die Pariserinnen ihre Säuglinge zu hunderten aufs Land schickten, wo "gesunde Bauersfrauen" sich als Ammen ein Zubrot verdienten. Ammen wurden gut bezahlt und mit dem besten Essen versorgt. Man glaubte, dass nur eine fröhliche Amme gute Milch produzierte.

Doch mit der Zeit mehrte sich die Kritik: Ärzte klagten, dass viele Säuglinge starben, weil sie von ihrer Amme in der Nacht im Bett erdrückt wurden. Sie bemängelten, dass das Kind keine natürliche Bindung zur Mutter aufnehmen könne. Und sie fürchteten, dass auch Krankheiten über die Milch übertragen werden könnten. Mit der Entwicklung der Fertigkost gingen schließlich im 20. Jahrhundert die letzten Ammen "in Rente".

Heute propagieren Ärzte und Initiativen das Stillen durch die eigene Mutter. Nichts sei so gesund wie Muttermilch, erklärt das Kinderhilfswerk Unicef. Mindestens vier bis sechs Monate sollte ein Baby ausschließlich durch die Mutter ernährt werden, um ein möglichst stabiles Immunsystem zu erhalten. Studien zeigen, dass Kinder, die gestillt werden, seltener Allergien entwickeln. Und Mütter, die stillen, erkranken seltener an Brustkrebs oder Osteoporose.

Organisationen wie die Deutsche Stillkommission und die Arbeitsgemeinschaft Freier Stillgruppen machen noch ein weiteres Argument geltend: Der enge Kontakt zur Mutter fördere die Bindung zwischen Mutter und Kind weit stärker, als es eine Fläschchen-Fütterung vermag. Ein Problem, das auch Sarah Hastings sah. "Doch dann habe ich gemerkt, dass Zoe kein Problem damit hat, mal von der Kinderfrau und mal von mir gestillt zu werden. Eigentlich ist es die perfekte Lösung", urteilt die Mutter.

Nach Deutschland scheint der Trend noch nicht gelangt zu sein. "Im Familien- oder Freundeskreis kommt es vor, dass etwa Schwestern auch das Kind der anderen stillen", sagt Edith Wolber vom Bund deutscher Hebammen. Geredet werde darüber aber nicht. "Ich persönlich kann mir vorstellen, auch das Kind einer Freundin an die Brust zu legen", sagt Wolber. "Wenn das Kind Hunger hat und die Frau genug Milch hat — warum nicht?"

(RP)
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