Rubrik „Sprechstunde“ Radikale Emotionen

Gefühle wie Hass, den wir jetzt in Chemnitz erleben, stecken in uns allen. Wichtig ist, sie zu kontrollieren und ins Positive zu verwandeln, meint unser Experte.

Unser Leser Uwe K. aus Langenfeld fragt: „Wenn ich Bilder aus Chemnitz sehe und in Gesichter schaue, in denen nur Hass steht, und Handlungen erlebe, die sehr nach Hetze klingen, dann frage ich mich: Sind diese Menschen, die sich so verhalten, nicht krank?“

 Jürgen Vieten Zunächst gilt: Hass und auch Hetze sind keine Krankheiten, sondern Gefühle. Jeder emotional komplette Mensch hat auch diese in sich. Sie sind wie alle anderen Gefühle biologisch entstanden, hatten ihren Sinn in der besseren Überlebensfähigkeit des Einzelnen und der Gruppe. Im Hass konnten die Menschen töten, in einer aufgehetzten Gruppe überleben und zum Beispiel Revier und Besitz verteidigen und vergrößern. In dem Maße, wie Gesellschaften wuchsen, enger und sozialer wurden, wurde hieraus aber ein sozial unerwünschtes, ja schädliches, benutztes und fehlgeleitetes Gefühl. Beispiele gibt es unendlich: Lynchjustiz, Hexenjagd, Kreuzritter, Nazitum, IS, Pogrome.

  Unser Autor  Jürgen Vieten ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Mönchengladbach.

Unser Autor Jürgen Vieten ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Mönchengladbach.

Foto: Andreas Baum

Im Rechtsstaat werden diese Gefühle besonders konsequent unterdrückt. Der Einzelne hat sie aber trotzdem und muss lernen, sie zu kontrollieren und damit umzugehen. Unser Hass löst in anderen Angst aus, man meidet uns, wir werden einsam, konzentrieren unsere Handlungen darauf, dem gehassten Menschen, der gehassten Gruppe zu schaden, vernachlässigen alles andere.

Dadurch gewinnen wir und kommen in die Lage, dass wir Angst, Verzweiflung, Trauer, Einsamkeit, Ohnmacht nicht mehr spüren müssen, verlieren aber das Verständnis der anderen und die Fähigkeit zu Glück und Zufriedenheit. Nun wollen wir aber trotzdem nicht alleine bleiben. Das geht nur, indem wir hetzen und so den Hass in anderen wecken, um uns dadurch verbunden zu fühlen.

Der Gegenspieler ist natürlich die Liebe, für die sich die meisten Menschen entscheiden. Dieses Gefühl ist zwar stärker als der Hass, benötigt aber die anderen, die wir lieben dürfen. Sie sagt Ja zu Angst, Verzweiflung, Trauer und damit auch ja zur Schwäche, ermöglicht Mitgefühl, Empathie, wodurch die liebende Gruppe viel größer wird und der hassenden mittelfristig immer überlegen ist, was historisch praktisch ausnahmslos (bis in extremen Krisenzeiten, wo es ums Dasein vieler geht) nachweisbar ist.

Spüre ich meinen Hass, so sollte ich mich rasch damit auseinandersetzen, mit anderen sprechen, die Ursache ehrlich herausfinden und verändern. Meist sind es nämlich nicht der andere, die anderen, die uns hassen lassen, sondern wir projizieren unseren Hass nur auf sie, haben ganz andere Probleme. Gelingt das nicht, dann bleibt nur noch die Distanz zum gehassten Menschen, zur gehassten Gruppe, bis schließlich Gleichgültigkeit eintritt. Nur so kann ich verhindern, mich mitten in der modernen Zivilisation in archaische, eventuell sogar tödliche Kämpfe zu verwickeln.

Ein wichtiger Tipp für die Liebenden: Richtet sich Hass auf sie, dann sollten sie versuchen, die Angst davor zuzulassen, sich mit anderen abstimmen und sie zu überwinden. Dann wird einem der Hass des anderen am Ende sogar neue Kräfte zuführen.

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