Phänomen „Oversharing“ Wenn Menschen zu viel Intimes erzählen

Analyse | Düsseldorf · Eine Partybekanntschaft erzählt schon nach fünf Minuten von Beziehungsproblemen – inklusive intimer Details. Das Phänomen nennt sich „Oversharing“. Welche Ursachen verbale Überzutraulichkeit hat und wie man damit umgeht.

 Menschen unterhalten sich auf einer Party (Symbolbild).

Menschen unterhalten sich auf einer Party (Symbolbild).

Foto: pixabay

Manchmal geschieht es am Rande von Partys in den musikberuhigten Zonen. In der Küche oder auf dem Balkon kommt man ins Gespräch mit Leuten, die man nicht gut kennt, redet über Musik, Filme, dies und das. Doch plötzlich beginnt das Gegenüber Dinge preiszugeben, die man höchstens engen Freunden anvertrauen würde. Wenn überhaupt. Plötzlich geht es um Beziehungsprobleme, Traumatisierungen aus der Kindheit, Krankheiten, Drogenkonsum. Fremde breiten ihre Probleme aus. Dabei scheint es manchen nur um die Selbstmitteilung zu gehen. Sie achten kaum auf die Reaktionen ihres Gegenübers, die Selbstentblößung ist ein Monolog, ein von der Seele-Reden zur falschen Zeit am falschen Ort. Im angelsächsischen Raum wurde dafür ein Begriff geprägt: „Oversharing“ – überzogene Mitteilsamkeit.

Eine andere Variante tritt eher unter losen Bekannten auf, manchmal auch zwischen Eltern und älteren Kindern. Intime Beichten sind dann der Versuch, eine Beziehung auf ein bestimmtes Vertrautheitslevel zu zwingen. Durch die einseitige Preisgabe sensibler Geschichten, soll auf ein enges Verhältnis „eingezahlt“ werden. Vom Gegenüber wird im Gegenzug erwartet, ebenfalls Privates zu erzählen und das Zutrauen zu erwidern. Wie Kinder, die in Abenteuerromanen Blutstropfen tauschen, soll der Austausch pikanter Informationen zwei Menschen aneinander binden. Nur blöd, wenn eine Seite das gar nicht will. Und nicht weiß, wohin mit ihrer Fremdscham.

„In der Regel wählen wir Menschen genau aus, mit denen wir intime Gedanken oder Wissen über unsere Vergangenheit teilen. Dafür muss es eine besondere Zuneigung geben und genug Vertrauen, dass solche Informationen nicht missbraucht werden“, sagt die Autorin Petra Kunze, die unter anderem ein Buch über das Nein-Sagen geschrieben hat. Bei Menschen, die zu schnell zu viel von sich preisgeben, sei das Empfinden für die natürlichen Schranken gestört. Sie betrieben Grenzüberschreitungen, ohne es zu bemerken. Das ist nicht nur unangenehm für das Gegenüber, es kann die Betroffenen auch selbst in schwere Krisen stürzen, wenn sie irgendwann eben doch realisieren, dass andere zu viel über sie wissen. Nicht immer treffen überzutrauliche Menschen ja auf sensible Gegenüber, die versuchen, die Selbstentblößung zu stoppen und das Thema zu wechseln. Manche nutzen die Redseligkeit anderer auch aus, erzählen pikante Details weiter, machen sich lustig. „Die Angreifbarkeit wird enorm groß, wenn man kein Gespür dafür hat, wem man sich in welchem Kontext anvertrauen kann und wem besser nicht“, sagt Kunze. Neid, Hass, Mobbing können die Folge sein.

Doch Oversharing ist nicht nur eine individuelle Macke, sondern hat auch eine gesellschaftliche Dimension, denn die Grenzen des Privaten sind durch die sozialen Medien durchlässiger geworden. Digitale Netzwerke wie Instagram oder Twitter hätten einerseits den globalen Austausch befördert und emanzipatorische Bewegungen auf der ganzen Welt unterstützt, schrieb der inzwischen verstorbene Soziologe Ben Agger, von der Universität Texas at Arlington in einem Buch über Oversharing und die Präsentation des Selbst im Internet. Im angelsächsischen Raum beschäftigt das Phänomen die Wissenschaft schon länger. Auf der anderen Seite setzten dieselben digitalen Plattformen Demokratien unter Druck, würden falsche Nachrichten massenhaft verbreiten – und die Wahrnehmung von Privatheit verändern. Menschen verrieten in den sozialen Medien mehr über ihre inneren Gefühle, ihre Überzeugungen oder ihre Sexualität, als sie das jemals in der direkten Begegnung oder in einem Telefonat täten, so Agger. Ständiges Mitteilen über sms, Facebook, Instagram, Bloggs, Dating über digitale Plattformen und der Konsum von Internet-Pornografie seien Vehikel für Oversharing, eine Gewöhnung an zu viel Intimität.

Wegen des Einflusses digitaler Medien hält Petra Kunze die Tendenz zum Oversharing auch für eine Generationenfrage. Junge Leute, die viel im Netz unterwegs seien, beobachteten auch bei Prominenten, wie sie private Dinge mit einer großen Öffentlichkeit teilten. „Das ist oft nicht echt. Promis mieten fremde Anwesen, inszenieren sie wie ihr Zuhause und geben darin Interviews“, sagt Kunze. Doch das zeige Wirkung. „Da werden Grenzen verschoben. Wenn berühmte Leute intime Dinge mitteilen, freuen sich die Fans - und machen es ihnen nach.“

Doch das kann Folgen haben. Prominente werden in ihren Auftritten von professionellen PR-Managern unterstützt, kontrollieren genau, wie sie in Erscheinung treten. Wenn Leute ohne solche Beratung ihr Privatleben ausbreiten und das Gefühl für die Grenzen zur Selbstentblößung verlieren, werden sie leicht Ziel für Hasskommentare und Häme. Das wirkt zurück auf das reale Privatleben. Und einmal gepostete Details sind in der Welt. „Dabei kann ein Stück Identität verloren gehen“, sagt Kunze. „Mein Leben ist dann nicht mehr meins, sondern es ist öffentlich. Was bleibt mir dann, worüber kann ich noch verfügen? Selbst Kommunikationsprofis betrifft das.“

Im Umgang mit überzutraulichen Menschen stellt sich die Frage, wie sie zu stoppen sind, ohne sie zu verletzen. Gerade wenn die verbale Übergriffigkeit bei losen Freunden geschieht, fühlen sich manche Gegenüber genötigt, ihrerseits Privates zu erzählen, um die Situation zu retten. Sie geben dann Dinge preis, die sie lieber für sich behalten hätten, allein, um das beschädigte Gleichgewicht wieder herzustellen. Meist bereuen sie es im selben Moment. Kunze rät, nicht in diese emotionale Falle zu tappen, sondern bewusst Grenzen zu ziehen. „Da muss man im Zweifel auch mal deutlich das Thema wechseln und riskieren, dass der andere seine Übergriffigkeit bemerkt“, sagt Kunze. Auf das eigene Bauchgefühl hören, sich nicht unter Zugzwang setzen lassen – wenn das Gegenüber kein Empfinden für die Situation habe, müsse eben der oder die andere die Zügel in die Hand nehmen. So bleibt die Vertraulichkeit eine Frage der Wahrnehmung von Situationen und Beziehungen und muss austariert werden – bei jeder Begegnung neu.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort