Streitschrift gegen positives Denken Warum wir Pessimisten brauchen

Düsseldorf · Der Psychologe Arnold Retzer hat eine Streitschrift gegen positives Denken verfasst – und wünscht uns mehr Mut zum Versagen. Seiner Meinung nach, kann der Zwang zum positiven Denken, in einer immer depressiveren Gesellschaft, gefährlich werden.

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Foto: Barmer GEK

Der Psychologe Arnold Retzer hat eine Streitschrift gegen positives Denken verfasst — und wünscht uns mehr Mut zum Versagen. Seiner Meinung nach, kann der Zwang zum positiven Denken, in einer immer depressiveren Gesellschaft, gefährlich werden.

Es ist schon anstrengend geworden, glücklich zu sein. Unzählige Ratgeber fordern den verzagten Westeuropäer auf, sich gefälligst nicht mehr zu sorgen, lieber Techniken einzuüben, mit denen das Gehirn auf Optimismus umschaltet und der Körper entspannt. Gedankendoping hat Konjunktur.

Schließlich steigt die Zahl der Deprimierten und Burn-Out-Opfer unaufhaltsam, Mutlosigkeit grassiert. Das ist ein Markt. Dagegen lässt sich anschreiben, dagegen lassen sich Therapiesitzungen, Entspannungskurse, Wellness-Urlaube empfehlen, bis der Mensch zu erschöpft ist von all diesen Glücksbemühungen, um unglücklich zu sein.

Der Zwang zum positiven Denken, den sich eine immer depressivere Gesellschaft verordnet hat, kann aber auch gefährlich werden. Das ist die These des Heidelberger Psychologen Arnold Retzer, der jetzt eine Streitschrift gegen positives Denken veröffentlich hat. Und das ist nun kein weiterer Ratgeber, der einfach schlau die Vorzeichen verkehrte und die Erschöpften in ihrer Weltsicht bestätigte. Vielmehr zeigt Retzer, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Zeitgeist und Depression.

Werte die heute hoch im Kurs stehen — Ideale wie Erfolg, Spaß, Autonomie, Selbstverwirklichung — überfordern den modernen Menschen und führen zu mieser Stimmung. Gerade weil wir uns so verzweifelt darum bemühen, Helden des Alltags zu sein, also Frustration in Motivation für noch mehr Leistung zu verwandeln, fühlen sich immer mehr Menschen überfordert — zu klein für diese Aufgabe.

Das ist ein persönliches Drama, aber auch ein gesellschaftliches. Denn eine Gemeinschaft, die sich verzweifelt bemüht, nur das Gute zu sehen, verliert den Sensor dafür, was verändert werden müsste. "Wer Hoffnung hat, ist oft schlecht informiert oder weigert sich, die zur Verfügung stehenden Informationen zur Kenntnis zu nehmen", schreibt Retzer. Wer um jeden Preis positiv denken will, denkt eben nicht mehr, denn er verbietet sich die kritische Sicht auf Missstände. Die zu erkennen, ist aber Voraussetzung für Fortschritt.

Retzer plädiert daher dafür, verpönte Zustände wie Angst, Trauer, Hoffnungslosigkeit, Ungewissheit, Zweifel, Scheitern aufzuwerten. Das ist mehr als die bekannte Parole, die Chance in der Krise zu suchen. Es ist die Ermutigung, die eigenen Gefühle und Gedanken, die guten wie die schlechten, zuzulassen und entsprechend zu handeln. Das beugt Erschöpfung vor. Außerdem kann es zum Beispiel sinnvoll sein, ein Projekt auch nach einiger Vorarbeit in Zweifel zu ziehen und aufzugeben, statt es heroisch gegen alle Widerstände zu Ende zu bringen. Aufgeben ist nicht feige, sondern ein Zeichen von Freiheit.

Auch Angst ist kein schlechter Impuls, den es wegzutherapieren gilt. "Was der Schmerz für unseren Körper, ist die Angst für unsere Psyche", schreibt Retzer. Angst bewahrt den Menschen vor Fehlentscheidungen. Er kann außerdem wachsen an seiner Angst, kann sich vorwagen, Sicherheiten aufgeben, so weit, wie er es eben verantworten mag. Wie schädlich es ist, wenn einer keine Angst hat, erzählt das Märchen von "Einem, der auszog, das Fürchten zu lernen". Der junge Held, den die Brüder Grimm da ins Spukschloss schicken, ist zwar unendlich tapfer, aber auch gefühllos. Wer sich nicht gruselt, empfindet eben gar nichts und muss am Ende dankbar sein, wenn ihm die Prinzessin einen Bottich kalten Wassers mit Fischlein über den Leib kippt. Wer sich gruselt, lebt, darum sollten wir uns vor der Angst nicht so fürchten.

Auch warnt Retzer davor, depressive Menschen aufheitern zu wollen. Das verfestige den Depressiven nur in seiner Weltsicht und sorge für einen weiteren Erschöpften — denn natürlich sei es aussichtslos, einen existenziell niedergeschlagenen Menschen zu seinem Glück zwingen zu wollen. Genauso warnt der Psychologe allerdings davor, Depression allein als biologisches Phänomen zu betrachten. Denn das traut den Betroffenen nicht mehr zu, durch ihr Handeln, ihren Lebenswandel Einfluss zu nehmen auf ihr Befinden.

Krisen sind schmerzlich. Aber Krisen sind auch dazu da, Menschen zum Umdenken, zum Ablassen von schlechten Verhaltensmustern zu bewegen. Das gilt für persönliche wie gesellschaftliche Krisen. Darum ermutigt Retzer in seiner anregenden Streitschrift, Scheitern nicht nur als Versagen zu werten, sondern als Hinweis auf Missstände, die es zu ergründen gilt. Und vielleicht sogar zu verändern.

(RP/csr)
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