Interview "Man muss über Psychosen Witze machen"

Köln · Der Chefarzt einer psychiatrischen Klinik gastiert heute in den "Mitternachtsspitzen" und spricht über wahnsinnig Normale.

Als Manfred Lütz vom schweren Motorradunfall seines Kabarett-Partners Jürgen Becker erfuhr, hat er erst einmal für seinen Freund gebetet. "Als ich hörte, dass er klar im Kopf ist, habe ich natürlich sofort aufgehört", sagt der Psychiater. Becker hatte sich während einer Motorradtour an der Elbe vor Kurzem schwer verletzt, sich Becken und beide Arme gebrochen. Die Sendung "Irre! Das Problem sind die Normalen" war schon vor dem Unfall aufgezeichnet worden, in Einspielern tuckert Jürgen Becker allerdings auf einem Motorrad am Rhein entlang. "Es ist schon ein wenig makaber, weil ich in dem Film mehrmals mit Jürgen Motorrad fahre und witzele, man würde im Beiwagen tief religiös", sagt Manfred Lütz. "Das hat jetzt mit dem Unfall alles eine ganz andere Bedeutung." Der 60-Jährige macht seit Jahren schon Kabarett, die WDR-Sendung und die Zusammenarbeit mit Jürgen Becker sind aber eine Premiere.

Warum darf man über Psychosen und Depressionen Witze machen?

Lütz Weil man über alles Wichtige Witze machen muss! Ein Drittel aller Deutschen werden im Laufe ihres Lebens einmal psychisch krank, die anderen zwei Drittel haben psychisch kranke Angehörige. Mittlerweile können über die Hälfte aller psychischen Krankheiten geheilt werden. Aber die Kenntnisse über die Psychiatrie sind nach wie vor mittelalterlich, vermutlich weil viele davor Angst haben und sich nicht kundig machen.

Kann Kabarett das ändern?

Lütz Mit dem Film und meinen Bühnenauftritten will ich die Spaßgesellschaft erreichen, also ganz normale Menschen, die sich üblicherweise nicht mit dem Thema psychische Krankheiten auseinandersetzen. Ich wünsche mir, dass ein alerter Manager in meinem Kabarettprogramm einen lockeren Abend verbringt und anschließend seinen schizophrenen Vetter anruft, weil er gemerkt hat, dass der gar nicht so verrückt ist, wie er dachte.

Was heißt auch normal? Sie sprechen von normalen Wahnsinnigen und wahnsinnigen Normalen.

Lütz Ich habe den ganzen Tag in der Klinik mit hinreißenden Manikern, sensiblen Schizophrenen und dünnhäutigen Süchtigen zu tun, und abends sehe ich die "Tagesschau", in der es um Kriegshetzer, Wirtschaftskriminelle und rücksichtslose Egomanen geht — da kann man schon mal auf den Gedanken kommen, dass unser Problem eher die Normalen sind.

Und die beschäftigen sich auch mit allerhand Wahnsinn.

Lütz Ja, mit Esoterik zum Beispiel. Die Menschen glauben den größten Mist. Wenn Sie dann noch mit einem Doktortitel ausgerüstet sind, sich auf eine Bühne stellen und behaupten, amerikanische Studien hätten ergeben, wer jeden Tag eine halbe Stunde um eine Eiche renne, werde statistisch etwa drei Monate älter, werden Sie in der Umgebung von Düsseldorf bald keine Eiche finden, um die nicht ein Idiot herumrennt. Im Esoterik-Bereich können Sie heutzutage alles verkaufen — so etwas Verrücktes machen meine Patienten in der Regel nicht.

Merken Sie in Ihrer Praxis, dass sich beim Thema psychische Krankheiten etwas verändert hat?

Lütz Schon, aber das liegt nicht nur an mir, auch wenn sich mein Buch "Irre — wir behandeln die Falschen" eine Million Mal verkauft hat und auch die Bühnenprogramme gut funktionieren. Aber Humor ist schon ein wichtiger Weg, das Tabu "psychische Krankheiten" zu brechen und die Menschen darüber besser aufzuklären. Und Humor kann auch in der Therapie sinnvoll sein, schließlich hilft es niemandem, wenn ich im Krankenhaus mit Leichenbittermiene umherlaufe. Wenn ein primär humorvoller Rheinländer nach der Behandlung herzlich darüber lachen kann, was er da in der Depression so alles befürchtet hat, dann ist er aus der Depression raus.

(RP)
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