Probleme mit dem Wiedererkennen Zwei Millionen Deutsche sind gesichtsblind

Düsseldorf · Viele können selbst vertraute Menschen schlecht wiedererkennen. Diese Krankheit ist bereits seit Jahrhunderten bekannt. Doch erst 1947 begann die Forschung sich damit auseinanderzusetzen und gab dem Phänomen einen Namen.

Das da drüben wird doch wohl nicht der Chef sein! Von weitem sieht der Mann irgendwie so aus — hoffentlich stand er nicht eben schon da, als wir dort vorbeigingen, und hat darauf gewartet, gegrüßt zu werden. Und wer war diese Frau eben, die uns zu kennen schien? Hätten wir da irgendwie reagieren müssen — aber wie denn, wenn uns innerhalb der ein, zwei Sekunden, in denen andere erwarten, erkannt zu werden, partout nichts zu einem Gegenüber einfällt? Die Fähigkeit, sich gut an die Gesichter bestimmter Menschen zu erinnern, ist nicht jedem gegeben.

Wer dabei trotz guter Augen häufiger in Verlegenheit gerät und andere Menschen vor allem an der Stimme, der Haltung oder den Haaren wiedererkennt, könnte von einer organisch bedingten Gesichtserkennungsschwäche oder "Gesichtsblindheit" betroffen sein. Einzelfälle von Menschen mit solchen Symptomen sind in der Medizin schon seit Jahrhunderten beschrieben worden, aber erst 1947 untersuchte der deutsche Neurologe Joachim Bodamer die Parallelen dieser Berichte und gab dem Phänomen den Namen Prosop(-)agnosie ("Gesichts-Nichterkennen").

Bis nach der Jahrtausendwende ging man davon aus, dass Gesichtsblindheit fast immer durch eine Hirnschädigung nach einem Unfall, einer Hirnentzündung oder einem Schlaganfall "erworben" wird. Erst durch Forschungen am Institut für Humangenetik der Universität Münster in Kooperation mit dem selbst betroffenen Arzt und Wissenschaftspublizisten Thomas Grüter und seiner Ehefrau Martina Grüter stellte sich heraus, dass die Wahrnehmungsstörung in Familien gehäuft vorkommt, also erblich und außerdem viel weiter verbreitet ist als bis dahin vermutet.

So rechnet man heute mit etwa zwei Millionen Betroffenen in Deutschland, was der Quote einer Lese-Rechtschreib-Schwäche entspricht. Und so wie LRS-Betroffene nur teilweise mit der Schrift ihre Probleme haben, sei es für Menschen mit Prosopagnosie einfach schwerer, Gesichter zu erkennen, sagt Thomas Grüter. Inzwischen sind immerhin schon mal die Hirnregionen identifiziert, in denen dabei nicht alles nach Plan läuft. Im Bereich des vorderen Schläfenlappens werden einem Gesicht Informationen wie der Name einer Person zugeordnet, und im "Gyrus fusiformis" — einer Windung des Schläfenlappens hinter dem rechten Ohr — werden Gesichter erkannt.

Was dort bei Menschen mit Prosopagnosie nicht funktioniert und welches Gen dafür verantwortlich sein könnte, ist noch unklar. Heilbar ist die Wahrnehmungsstörung nicht, Gesichtsblinde könnten nur versuchen, sich darauf einzustellen und strategisch auf ihre Schwäche zu reagieren, erklärt Grüter, der auf seiner Internetseite www.prosopagnosie.de viele Informationen zum Thema zusammengestellt hat und Betroffenen als Ansprechpartner zur Verfügung steht.

Wenn er Gesichter sieht, geht es ihm wie Europäern, die in Asien oder Afrika den "Cross Race"-Effekt erleben: Die anderen sehen scheinbar alle gleich aus. "Das ist für Leute mit Prosopagnosie das ganze Leben so", sagt Grüter. Wer andere Menschen nicht am Gesicht erkennen kann, muss deshalb versuchen, sich bei Bekannten besondere Merkmale einzuprägen und auf Stimme, Haltung und die Kleidung der anderen achten. "Die Strategie in Bereichen, wo man häufig hingeht, beispielsweise am Arbeitsplatz, ist, dass man sich vergegenwärtigt, wen man denn da erwartet und wie der ungefähr aussieht", sagt Grüter. Fehlen dabei Unterscheidungsmerkmale, kann es schwierig werden — wie bei dem ehemaligen US-Soldaten, der Grüter berichtete, dass er irgendwann einen Nervenzusammenbruch erlitt und aus der Armee ausscheiden musste, weil er seine uniformierten Kameraden nicht auseinanderhalten konnte.

Grüter kennt diesen Effekt von Filmen, in denen fast alle Darsteller im Anzug herumlaufen und für ihn nur mühsam zu unterscheiden sind. Völlig witzlos findet er Verwechslungskomödien, weil es ihm nicht einleuchtet, dass die Verwechselten einander ähneln sollen.

Ein Tipp, den Grüter immer wieder an andere Betroffene weitergibt, lautet, den einen oder anderen in seiner Umgebung vorzuwarnen: "Wenn ich dich mal nicht erkenne, sprich mich an, ich tu mich da schwer!" Dass "jemand sich hinterher beschwert, man habe ihn nicht erkannt", passiert ihm aber immer wieder. Da ist es auch kein Trost, wenn die Betroffenen aufgrund ihres relativ unscharfen Erinnerungsbildes von bestimmten Gesichtern zum Ausgleich auch manchmal Leute "wiedererkennen", die sie noch nie gesehen haben.

(RP)
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