Ernährungspläne Wenn gesundes Essen zum Zwang wird

Düsseldorf · Immer mehr Menschen achten auf gesunde Ernährung. Manche treiben es so weit, dass Essenspläne ihr Leben regieren. Ernährung ist ein Feld für rigide Regeln geworden, weil die in unübersichtlichen Zeiten Halt suggerieren. Eine Analyse.

Superfood-Liste: 15 extrem gesunde Lebensmittel
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Foto: Shutterstock/diogoppr

In dem Gläschen ist Quark mit dunklen Açai-Beeren angerührt. Die wachsen in Brasilien an Palmen und sollen schlank, faltenfrei, rundum gesünder machen. Das nächste Foto zeigt geschnitzte Radieschen auf einem Joghurt-Dip mit Brokkoli-Sprossen, dann folgt das Selfie einer jungen Frau, die ihr neues Hobby mit Hunderten Followern teilt: gesund kochen.

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Foto: dpa, Mascha Brichta

Fitnessprofile und Essenstagebücher mit den täglichen Rohkost-Arrangements sind ein neuer Trend auf Fotoplattformen wie Instagram. Sich gesund zu ernähren, verspricht Sozialprestige. Denn es steht für Qualitätsbewusstsein, Selbstdisziplin, Freude an einem dynamischen Leben mit einem fitten Körper. Doch Fototagebücher zeigen natürlich nur die gesunden Leckereien, nicht, wie viel Aufwand es bedeutet, sich über das neueste "Superfood" zu informieren und ausgeklügelte Ernährungspläne aufzustellen, damit die Superzutaten auch ihre Superwirkung entfalten.

Genau dieser Aufwand kann aber überhandnehmen. Die Sorge um unbelastete Lebensmittel und perfekte Ernährung kann ein Thema werden, das Menschen beherrscht und sie dazu bringt, sich rigide Essensregeln zu verordnen. Bis sie bei Familienfeiern die eigene Tupperdose mit Rohkost auspacken, weil die Vorstellung, ein Stück Sahnekuchen zu essen, sie peinigt. Bei Treffen mit Bekannten täuschen sie vor, sie hätten "leider gerade gegessen", weil nicht garantiert ist, dass bei den Freunden Bio in die Pfanne kommt. Und kilometerweite Fahrten zu irgendwelchen Mühlen nehmen sie in Kauf, weil es dort das seltene Schrot oder Öl gibt, das gesund machen soll.

Orthorexie nennt die Wissenschaft das recht junge Phänomen der Fixierung auf gesunde Ernährung. Der Begriff wurde 1997 vom US-amerikanischen Arzt Steven Bratman erstmals verwendet und leitet sich ab aus den griechischen Wörtern orthós für richtig und órexis für Appetit. Eigentlich also zwei positive Begriffe; und natürlich macht es zunächst stutzig, dass das Bemühen um gesundes Essen krank machen soll. Ist bewusste Ernährung doch ein Imperativ unserer Zeit.

"Wir stufen die Beschäftigung mit gesunder Ernährung als problematisch ein, wenn der Betroffene selbst darunter leidet", sagt Friederike Barthels, Psychologin an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität und eine der wenigen Expertinnen auf dem Gebiet. "Wenn Menschen selbst empfinden, dass dieses Thema ihr Leben beherrscht, dass es ihren Alltag und ihre sozialen Kontakte einschränkt, sollte man therapeutisch aktiv werden." In der Abteilung Klinische Psychologie in Düsseldorf sind inzwischen rund 15 Studien entstanden, die zeigen, dass von Orthorexie etwa ein bis drei Prozent der Bevölkerung betroffen sind. In der Mehrheit sind es jüngere Frauen, die etwas weniger Gewicht auf die Waage bringen als der Durchschnitt und auch mit anderen Erkrankungen zu tun haben, etwa mit Allergien, Verdauungsschwierigkeiten oder psychischen Erkrankungen.

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Foto: AP

Gesteigerte Sorge als Reaktion auf Lebensmittelskandale

Bisher ist die Störung nicht klassifiziert, doch spricht viel dafür, sie bei den Essstörungen einzusortieren. Zwar haben die Betroffenen in der Regel keine veränderte Wahrnehmung ihres Körpers, wie etwa Magersüchtige. Es geht ihnen auch nicht in erster Linie um die Menge ihrer Nahrungsaufnahme, sondern um die Qualität. Doch auch Menschen, die an Orthorexie leiden, folgen nicht mehr ihrem freien Willen, sondern strengen, selbstverordneten Essvorschriften. Sie sind von der Richtigkeit ihres Handelns absolut überzeugt, versuchen oft, andere zu missionieren. Manche leiden an nahezu wahnhaften Vorstellungen, etwa, dass Gluten sie von innen verklebe. Und nie erlauben sich Orthorektiker, über die Stränge zu schlagen, mal etwas Ungesundes zu essen, einfach, weil es schmeckt.

Nun könnte man Orthorexie als eine neue Form der Essstörung abhaken, die nur wenige betrifft. Doch hat diese Krankheit viel mit dem Zeitgeist zu tun. Gesunde Ernährung ist allgemein ein beherrschendes Thema geworden — und die Sensibilität gegenüber den Produkten wächst. Immer mehr Menschen kaufen etwa laktosefreie Nahrung, obwohl die Zahl der Laktose-Intoleranten stagniert. Die gesteigerte Sorge ist wohl eine Reaktion auf Lebensmittelskandale der Vergangenheit und Pestizid-Debatten der Gegenwart. Die Konsumenten sind verunsichert, versuchen die Verantwortung für ihr Wohlbefinden selbst zu übernehmen und stoßen auf eine Flut von Tipps und Warnungen.

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Foto: Ildi Papp /Shutterstock.com

"Die Gesellschaft ist für solche Essensregeln so empfänglich, weil darin die Verheißung eines langen, gesunden Lebens steckt", sagt Psychologe Andreas Schnebel, Vorsitzender des Bundesfachverbandes Essstörung, "doch übertriebene Sorge ums Essen kann die Einstiegsdroge für eine Essstörung sein." Jede Woche wird ein neues "Superfood" geboren, das angeblich vor Krebs schützt oder beim Denken hilft, vor allem aber Geld bringt. Rigide Ernährungspläne sind auch eine Reaktion auf die verwirrende Vielfalt der Angebote.

Der verunsicherte Einzelne verschafft sich Halt, indem er klare Regeln festlegt. Er bekommt das Gefühl, wenigstens über einen Bereich der unübersichtlichen Wirklichkeit Kontrolle zu bewahren. Wenigstens die tägliche Zusammenstellung seines Müslis hat er im Griff. Manch einer wird darüber zum "Foodamentalisten", zum radikalen Bio-Apostel, für den die Worte von Ernährungsexperten Glaubenssätze sind, und die Sorge um das eigene Wohl zur Ersatzreligion wird.

Wie in vielen Gesellschaftsbereichen geht es also auch bei der Ernährung um weniger Kontrolle, mehr Gelassenheit. Experten raten, statt Ernährungspläne zu befolgen, nach Genuss zu essen und auf die Signale des Körpers zu achten. Die Dosis macht das Gift. Der Körper kennt sie.

(dok)
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