Sympathie für die Bankräuber Geiseldrama vor 50 Jahren prägte Begriff Stockholm-Syndrom

Wien · In Fällen von langer Entführung oder Geiselhaft stellt sich bei Opfern häufig das so genannte Stockholm-Syndrom ein. Dabei identifizieren sich die Opfer mit ihren Peinigern. Psychologen sehen darin eine Strategie zum Überleben.

Banküberfall mit Geiseldrama in München im Jahr 1971 (Symbolbild).

Banküberfall mit Geiseldrama in München im Jahr 1971 (Symbolbild).

Foto: dpa

„Runter auf den Boden!“, schrie Jan-Erik Olsson, als er am 23. August 1973 die Kreditbanken in Stockholm überfiel. So begann das sechstägige Geiseldrama, das den Begriff Stockholm-Syndrom prägte - das psychologische Phänomen, dass Opfer eine emotionale Bindung zu ihren Kidnappern entwickeln. Mit einer Maschinenpistole bewaffnet brachte Olsson vier Angestellte in seine Gewalt, drei Frauen und einen Mann.

Die Nachricht von dem Überfall verbreitete sich schnell: Polizei und Medien drängten sich auf dem Platz vor der Bank, Scharfschützen gingen in den umliegenden Gebäuden in Stellung. Olsson stand unter Drogen und benutzte zwei Geiseln als menschliche Schutzschilde. Er drohte, sie zu töten.

„Ich habe oft an diese absurde Situation gedacht, in der wir uns befanden“, erinnert sich eine der Geiseln, Kristin Enmark, in ihrem Buch. „Wir hatten Angst und von zwei Seiten drohte Todesgefahr: von der Polizei und dem Räuber“, schreibt die damals 23-Jährige.

Olsson, bekannt als „Janne“, forderte drei Millionen Kronen und die Freilassung des berüchtigten Bankräubers Clark Olofsson aus dem Gefängnis. Die Regierung ging darauf ein und brachte Olssons Kumpanen zur Kreditbanken.

Das ganze Land verfolgte gebannt die Geiselnahme vor dem Fernsehen. Es war eine der ersten großen Liveübertragungen in Schweden. „Als Clark Olofsson eintraf, übernahm er das Kommando. Er war derjenige, der mit der Polizei sprach“, erinnert sich der heute 73 Jahre alte Fotograf Bertil Ericsson im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AFP. „Er hatte sehr viel Charisma und konnte gut reden.“

Olsson beruhigte sich, als Olofsson da war. Und Enmark sah in Olofsson schnell ihren Retter. „Er versprach, dafür zu sorgen, dass mir nichts passiert, und ich beschloss, ihm zu glauben“, schreibt sie.

Enmark telefonierte während der Geiselnahme mehrmals mit den Behörden und schockierte die Öffentlichkeit, als sie die Bankräuber verteidigte. „Ich habe kein bisschen Angst vor Clark und dem anderen Typen. Wissen Sie, wovor ich mich fürchte? Dass die Polizei uns etwas antut, dass sie die Bank stürmt“, sagte sie dem damaligen Regierungschef Olof Palme am Telefon. „Ob Sie's glauben oder nicht, wir haben eine wirklich nette Zeit.“ Sie würden sich „Geschichten erzählen“ und Dame spielen, berichtete Enmark.

Am sechsten Tag beendete die Polizei das Geiseldrama. Sie bohrte ein Loch in das Dach der Bank und versprühte Gas. Olsson ergab sich und die Geiseln kamen frei.

Der Psychiater Nils Bejerot analysierte als Mitglied des Verhandlungsteams das Verhalten der Bankräuber und der Geiseln. Er prägte den Begriff „Stockholm-Syndrom“ und ging davon aus, dass die Opfer im Bann der Täter standen.

Psychiater haben diese Vorstellung inzwischen verworfen. Mit dem Peiniger zu kooperieren sei vielmehr ein „Abwehrmechanismus, der dem Opfer hilft“, mit einer traumatischen Situation fertig zu werden, sagt Christoffer Rahm, Psychiater am Karolinska-Institut, der sich wissenschaftlich mit dem Syndrom befasst.

Für Cecilia Ase, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Stockholm und Expertin für Genderfragen, hat der Begriff eine politische Dimension. Die Frauen seien so dargestellt worden, als hätten sie jegliche Vernunft verloren, sagt sie. Diese Sichtweise wurde durch Gerüchte befeuert, Enmark und Olofsson hätten während der Geiselnahme eine Affäre gehabt. Jahre später verband die beiden zwar tatsächlich eine Liebesbeziehung, doch deutet nichts darauf hin, dass diese bereits im Tresorraum der Bank begann. „Es gab keine Liebe oder körperliche Anziehung von meiner Seite aus. Er war meine Chance zu überleben und er hat mich vor Janne beschützt“, schreibt Enmark.

Die Gefangenen hätten in Wirklichkeit „unglaublich rational gehandelt“, sagt Ase. „Sie haben die Medien angerufen, argumentiert und versucht, Politiker und die Polizei davon zu überzeugen, sie freizulassen“. Laut der Wissenschaftlerin ist „das Stockholm-Syndrom ein erfundenes Konzept“, um das Versagen des Staates, die Geiseln zu schützen, zu verschleiern.

„Wir waren eine wirkliche Bedrohung für die Geiseln“, räumte Kommissar Eric Rönnegard Jahre später in einem Buch ein, in dem er die Fehler der Polizei bei dem Überfall untersuchte. „Bei so vielen Polizisten, die die Bank umringten, bestand die Gefahr, dass die vier Geiseln angeschossen werden.“

(boot/AFP)
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