Frank Bergmann im Interview "Einige Ärzte sind zu freigiebig bei Antibiotika"

Aachen · Der Chef der Kassenärztlichen Vereinigung kritisiert den Einsatz von Antibiotika in Deutschland sowie den Missbrauch des Notdienstes. Er fordert mehr Eigenbeteiligung der Patienten.

 Frank Bergmann ist Chef der Kassenärztlichen Vereinigung.

Frank Bergmann ist Chef der Kassenärztlichen Vereinigung.

Foto: KV

Viele Jahre hat Frank Bergmann als niedergelassener Neurologe und Psychiater in Aachen gearbeitet. Unter anderem hat er forensische Gutachten erstellt. Seit 1. Januar hat er im Hauptberuf einen ähnlich verantwortungsvollen Job: Als neuer Chef der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Nordrhein in Düsseldorf sorgt der 59-Jährige unter anderem dafür, dass die Versorgung mit niedergelassenen Ärzten und Psychotherapeuten gut bleibt.

Ärzte in NRW klagen seit Jahren, dass sie zu schlecht bezahlt werden. Zu recht?
Bergmann Völlig zu recht. Ärzte in anderen Bundesländern bekommen für gleiche Tätigkeiten deutlich mehr Geld. So stellen die Krankenkassen in Mecklenburg-Vorpommern im Jahr rund 404 Euro pro Kassenpatienten für dessen ambulante Versorgung zur Verfügung, in Nordrhein sind es nur etwa 329 Euro. Wir werden dafür kämpfen, dass diese Lücke geschlossen wird.


Woher kommen die Unterschiede?
Bergmann 2008 wurde bundesweit das Honorarsystem umgestellt mit der kuriosen Folge, dass die Ärzte in Nordrhein für ihre zuvor wirtschaftliche Arbeit bestraft wurden. Unter den Folgen leiden wir bis heute.


Da Ärzte in anderen Ländern kein Geld abgeben, müssen die Kassen insgesamt mehr bezahlen, um Ärzte in Nordrhein besserzustellen.
Bergmann Dafür werden wir kämpfen. Zumal auch der Gesetzgeber den Nachholbedarf mittlerweile anerkennt. Wir werden deutlich machen, dass die Bevölkerungsstruktur in NRW besondere Probleme mit sich bringt. Hier gibt es viele chronisch Kranke, zum Beispiel durch die Jobs in der Schwerindustrie des Ruhrgebietes oder entlang der Rheinschiene. Das muss bei der Finanzierung der ambulanten Versorgung berücksichtigt werden.


Um ihr Einkommen zu verbessern, haben manche Ärzte Patienten auf dem Papier kränker gemacht, als sie sind, wie die Techniker Kasse beklagt. Auch in Nordrhein?
Bergmann Nein, wir haben nicht zum Upcoding (Hochstufen) aufgerufen. Wir helfen aber bei der richtigen Codierung. Es ist im Interesse von Patienten, Ärzten und Kassen, dass ein Krankheitsbild vollständig und korrekt dokumentiert wird. Wenn ein Patient eine Depression hat, leidet er auch oft unter einer Angststörung und die muss miterfasst werden. Wenn Korrekturen nötig sind, sollten sie erfolgen.


Nun will der Gesetzgeber Manipulationen stoppen, indem er nachträgliche Korrekturen der Codierung verbietet und mehr Kontrollen einbaut. Was halten Sie davon?
Bergmann Dem Gesetz sehen wir gelassen entgegen, da wir kein Up-Coding betreiben. Wir gehen davon aus, dass Ärzte offenkundige Fehler — wie zum Beispiel einen Zahlendreher bei der Codierung — auch weiterhin nachträglich korrigieren dürfen. Insulin wird nun mal nur an Patienten verschrieben, die Diabetiker sind. Fehlt die korrekte Diagnose, stimmt etwas nicht.


Je nach Ausgang der Wahl drohen neue Schnitte: SPD, Grüne und Linke wollen die private Krankenversicherung in eine Bürgerversicherung überführen. Was heißt das für Ärzte?
Bergmann Davon halte ich nichts. Die private Krankenversicherung ist Innovationsträger. Viele neue Diagnostik- und Behandlungsverfahren werden zuerst von ihr finanziert, bis die gesetzlichen Kassen nachziehen. Zudem subventionieren in vielen Praxen die Privatpatienten die Kassenpatienten quer. Ohne Privatpatienten würden noch mehr Praxen schließen als bisher.


In Großstädten ist von Unterversorgung nichts zu spüren.
Bergmann Das sehen Patienten anders, die teilweise Wochen auf einen Termin bei bestimmten Fachärzten warten müssen. Das von Kassenseite geäußerte Credo, in Städten herrsche eine Überversorgung an Ärzten, stimmt so nicht. Denn Zentren versorgen das Umland mit. Und in Zukunft droht sogar Unterversorgung. Jeder dritte Hausarzt in Nordrhein ist über 60 Jahre alt. Es ist absehbar, dass sie Nachfolger suchen. Bis zum Jahr 2030 brauchen wir im Rheinland 5000 neue Hausärzte. Auch bei Augenärzten, Urologen und Neurologen droht ein Mangel. Wir als KV stehen vor der großen Herausforderung, die ambulante Versorgung in Zukunft mit deutlich weniger Ärzten sicherzustellen. Vor allem in ländlichen Regionen wird das schwierig.


Hilft dagegen nicht die Landarzt-Prämie, die Gesundheitsminister Gröhe ersonnen hat?
Bergmann Wegen einer einmaligen Prämie oder eines monatlichen Honorarzuschlages geht kein Arzt aufs Land. Das ist Schaufensterpolitik. Wichtig für junge Ärzte sind weiche Faktoren: Findet der Partner auf dem Land einen Job? Gibt es Schulen für die Kinder und welche Infrastruktur gibt es vor Ort? Als KV-Chef will ich dafür sorgen, dass mehr Ärzte als bisher den Sprung in die Selbstständigkeit wagen.


Wie?
Bergmann Wir werden unsere Kapazitäten bei der Weiterbildungsförderung von Ärzten weiter ausbauen und angestellten Medizinern durch Beratung und Paten-Programme die Angst vor der Selbstständigkeit nehmen. Auch der Abbau von Bürokratie gehört dazu. Zugleich müssen wir dafür sorgen, dass der Beruf finanziell attraktiv bleibt. Selbstständige arbeiten deutlich mehr als angestellte Ärzte, an der Spitze liegen selbstständige Kinderärzte, die 70 Prozent mehr arbeiten. Dieser Einsatz muss auch honoriert werden.


Ein anderes Problem in Nordrhein ist die starke Verschreibung von Antibiotika. Woran liegt das?
Bergmann Antibiotika werden primär von Kinderärzten und Hausärzten verschrieben. Bei der Anzahl an verordneten Dosen je 1000 Versicherte und Tag liegt Nordrhein im Bundesvergleich an dritter Stelle. Teilweise liegt das an chronischen Grunderkrankungen und dem industriellen Erbe. Beide Faktoren können Erkrankungen der Atemwege begünstigen, bei denen häufig auch Antibiotika verschrieben werden. Teilweise sind Ärzte aber auch zu freigiebig — auch, weil Patienten Druck machen. Das wollen wir ändern.


Wie?
Bergmann In mehreren Aufklärungskampagnen sensibilisieren wir Ärzte und Patienten für die Gefahren großzügiger Antibiotika-Gaben. Diese erhöhen das Risiko multiresistenter Keime, gegen die es kein Mittel mehr gibt. Auch Patienten müssen lernen, dass Antibiotika gegen Virenerkrankungen nicht helfen und man diese auch mal zehn Tage auskurieren muss.


Was können Sie noch tun?
Bergmann In einem zweijährigen Pilotprojekt testen Ärzte in Duisburg und Essen vor der Verschreibung mit einem Schnelltest, welche Behandlung für den Patienten die richtige ist und ob er gegen einzelne Mittel resistent ist. Das hilft dem Arzt, gleich das richtige Antibiotikum zu finden. Bewährt sich das Verfahren, kann man es auf ganz Nordrhein ausdehnen.


Sie sprechen von fordernden Patienten, die werden auch in Notfallpraxen zum Problem.
Bergmann Die Zahl der Patienten, die den ärztlichen Notdienst in Nordrhein in Anspruch nehmen, steigt stetig an: Im Jahr 2010 waren es rund 2,4 Mio. Behandlungen, im Jahr 2015 gab es insgesamt schon über 2,6 Mio. Behandlungen — und das nur in Nordrhein. Allerdings ist längst nicht jeder, der den Notdienst aufsucht, auch ein medizinischer Notfall. Manche finden es bequemer, am Wochenende zum Arzt zu gehen und vor allem in Krankenhäusern gleich eine Auswahl von Fachärzten zu haben. Das ist schlecht und blockiert Kapazitäten für die echten Notfälle. Der ungehinderte Zugang zur medizinischen Versorgung fördert leider eine Art "Flat-Rate-Mentalität" bei ärztlichen Leistungen.


Vielleicht sollte man die Praxisgebühr wieder einführen, um Patienten besser zu steuern.
Bergmann Die Praxisgebühr hat den Ärzten viel Bürokratie beschert und brachte wenig, am Ende war fast jeder zweite Patient von ihr befreit. Doch statt die Gebühr abzuschaffen, hätte man sie reformieren sollen. Eine Eigenbeteiligung schärft das Kostenbewusstsein der Patienten. Das habe ich in Belgien erlebt, wo ich früher eine Zweigpraxis betrieben habe.


Wie läuft es dort?
Bergmann Das System basiert auf Kostenerstattung. Alle Patienten erhalten eine Rechnung, die sie selbst bezahlen müssen, die Kosten bekommen sie ganz oder teilweise von ihrer Versicherung erstattet. Patienten sehen so, was ärztliche Leistungen wert sind. Härtefälle sind sozial abgesichert. Ein Konstrukt, das ein Vorbild für Deutschland sein könnte.

(anh)
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