Mediziner sehen Verbreitungsrisiko im Luftverkehr Gefährliche Keime im Flugzeug

Washington · Mediziner wittern die Gefahr, dass der internationale Luftverkehr in nicht dagewesenem Ausmaß zur Verbreitung von Infektionskrankheiten beiträgt. Dabei kann die Ansteckung mit Keimen auch schon am Boden erfolgen – etwa in der Warteschlange vor dem Einchecken.

Wie sie den Viren aus dem Weg gehen können
Infos

Wie sie den Viren aus dem Weg gehen können

Infos
Foto: ddp

Mediziner wittern die Gefahr, dass der internationale Luftverkehr in nicht dagewesenem Ausmaß zur Verbreitung von Infektionskrankheiten beiträgt. Dabei kann die Ansteckung mit Keimen auch schon am Boden erfolgen — etwa in der Warteschlange vor dem Einchecken.

Bislang hatte die alte Weisheit, wonach das Gefährlichste am Fliegen die Taxifahrt zum Flughafen ist, weitgehend Gültigkeit. Luftfahrtmediziner sehen jedoch — nicht zuletzt auf langen Strecken und mit neuen Riesenjet, die mehr als 600 Passagiere aufnehmen können — die Gefahr, dass der internationale Luftverkehr in bislang nicht dagewesenem Ausmaß zur Verbreitung von Infektionskrankheiten, vor allem von Grippevarianten und anderen Atemwegserkrankungen, beiträgt.

Auf dem Flug von Boston nach Los Angeles am 8. Oktober 2008 passierte Denkwürdiges. Bald nach dem Start erkrankten einige der Passagiere höchst akut und für ihre Mitreisenden unübersehbar. Die Passagiere, sämtlich Senioren, die in einer Gruppe durch die Neuenglandstaaten gefahren waren und sich an der Pracht der dortigen herbstlichen Laubfärbung des "Indian Summer" erfreut hatten, erlitten plötzliche Übelkeitsattacken und mussten zu den dezent in den Sitztaschen befindlichen Tüten greifen.

Eine Reisegruppe mit Noroviren infiziert

Ebenso aus sprichwörtlich heiterem Himmel kam der Durchfall über die Unglücklichen. Einige schafften es bis zu den drei Bordtoiletten der Maschine, ein älterer Herr erlitt — wie es amerikanische Mediziner in der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Falles feinfühlig umschrieben — einen "diarrhea accident" und das auch noch unglücklicherweise in der Ersten Klasse, in die er — Hilfe und eine Toilette suchend — vorgedrungen war.

Die Boeing musste, inzwischen mehr einem Lazarett als einem Linienflug ähnelnd, in Chicago ungeplant zwischenlanden. Zwei Tage später erkrankten acht Passagiere und ein Flugbegleiter an ähnlichen Symptomen, die meisten hatten in Nähe der kränkelnden Reisegruppe gesessen — und auch einen First-Class-Passagier traf es, der das Pech gehabt hatte, in der Nähe der den Gang verschmutzenden Unfallfolgen zu sitzen.

Der Flug ist für Luftfahrtmediziner eine Art Menetekel, eine Erinnerung daran, dass ein Flugzeug nicht nur Passagiere, sondern auch deren Krankheiten transportiert. Die Mitglieder der Reisegruppe hatten sich auf ihrer Fahrt durch die glühenden Laubwälder des amerikanischen Nordostens Noroviren eingefangen; einen Erreger, der nach rund 48 Stunden Inkubationszeit schwere, aber nur selten tödliche Magen-Darm-Beschwerden auslöst.

Der Zwischenfall weist auf eine potentielle Gefahr des Reisens per Flugzeug hin: Reisende können Bakterien und in hoher Zahl vor allem Viren an Bord ausscheiden und verbreiten; sowohl Passagiere, die unauffällig sind, wie auch jene, die während des Fluges plötzlich Symptome erleiden. Bei Grippe-Epidemien wie der in den letzten Jahren für Aufregung sorgenden Schweine- und Vogelgrippe soll es verschiedentlich zu Infektionen in der Kabine eines Flugzeuges gekommen sein.

Die Luftzirkulation im Flugzeug

Nicht in allen diesen Erkrankungsfällen gilt es als gesichert, dass die Betroffenen kerngesund ins Flugzeug stiegen und sich dort den gefährlichen Virus einfingen; einige könnten sich bereits vorher infiziert haben, ohne dass die Krankheit zum Ausbruch gekommen war.

Doch für Flugmediziner ist sicher: Dem internationalen Luftverkehr könnte die Rolle eines Vektors, eines Vehikels einer schnellen und wahrhaft globalen Ausbreitung der Seuche zu kommen — viel schneller, viel effizienter als jene Segelschiffe, die im Jahr 1347 aus dem Schwarzen Meer nach Italien kamen und mit der Pest die schlimmste Seuche mitbrachten, die je in Europa wütete und ein Drittel der Bevölkerung auf dem Kontinent hinwegraffte.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert als potenziell gefährliche Zone des Kontaktes mit einem Virenausscheider die engere Umgebung, nämlich die Sitzreihe des Erkrankten sowie die beiden Reihen vor und hinter ihm. Die meisten Viren, so auch Grippeviren, werden überwiegend durch Tröpfcheninfektion übertragen, also durch kleine Flüssigkeitspartikel in der Atemluft. Bei der Vorbeugung einer Ansteckung an Bord kommt der dortigen Luftreinigung eine hohe Bedeutung bei.

Vielen Passagieren ist nicht bekannt, dass keineswegs die gesamte Kabine von der gleichen Luft durchströmt wird. Vielmehr erfolgt der Luftaustausch in bestimmten Segmenten, wobei frische Luft von oben einströmt und unterhalb der Sitze wieder abgesaugt wird. Ein longitudinaler Luftstrom, der durch die ganze Länge der Kabine fließt, findet bei modernen Passagierflugzeugen nicht statt. Die gesamte Luft wird pro Stunde 15 bis 20 Mal erneuert, in einem Bürogebäude geschieht dies kaum häufiger als zwölf Mal. Sogenannte Hepa-Filter fangen Staub, Bakterien, Pilze und andere Partikel bis zu einer Größe von 0,3 Mikrometer ab — und somit auch virenbeladene Tröpfchen.

Die Gefahr am Boden

Das Problem ist in erster Linie der direkte Sitznachbar mit seinen Ausatmungsprodukten, bevor sie in den Filter wandern. "Es ist weithin akzeptiert", so erklärt Anthony Evans, der Leiter der Sektion für Luftfahrtmedizin bei der International Civil Aviation Organisation, "dass moderne Flugzeuge mit effizienten Teilchenfiltern die Luft so zirkulieren lassen, dass gefährliche Keime nicht durch die Kabine verteilt werden. Allerdings haben wir wenig Daten zum Risiko einer Ansteckung bei einem Mitreisenden mit einer infektiösen Erkrankung."

Gefährlich ist auch jene Phasen der Reise, in der die Luftreinigung und die permanente Zufuhr frischer Luft (ein treffender Begriff bei einer Reiseflughöhe von 10.000 Metern und mehr) aus der oberen Atmosphäre (noch) nicht stattfindet: wenn die Maschine noch am Boden steht.

"Das Infektionsrisiko steigt an", erklärt Walter Gaber, leitender Arzt am Frankfurter Flughafen, "wenn die Maschine auf dem Boden steht, die Triebwerke aus sind und die Hilfsaggregate nicht in Betrieb sind." Das lange Stehen an der Fluggastbrücke und das Warten mit abgestellten Triebwerken am Rande der Startbahn kann also nachhaltigere gesundheitliche Schäden verursachen als jene am Nervenkostüm der Reisenden.

(das)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort