Frauen werden oftmals falsch behandelt Experten warnen vor einem "Heer von Süchtigen"

Berlin · Frauen bekommen mehr Psychopharmaka als Männer - und das ohne konkreten medizinischen Grund. Ein Experte warnt vor dramatischen Folgen. Viele Frauen drohen in die Sucht abzurutschen.

Fünf Fragen zum Barmer Arzneimittelreport 2012
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Frauen bekommen mehr süchtig machende Medikamente und sterben häufiger am Herzinfarkt als Männer: Mit diesen beunruhigenden Ergebnissen schlagen Forscher im Auftrag der größten deutschen Krankenkasse Barmer GEK Alarm. Schon seit längerem wird in der Fachwelt mangelnde Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der Frauen in der Medizin-Versorgung diskutiert. Nun rückt das Problem in den Fokus.

Zwei- bis dreimal mehr Psychopharmaka

Insgesamt machen viele Ärzte augenscheinlich große Unterschiede beim Verordnen von Pillen. "Auffällige Unterschiede sind vor allem im Bereich der Antidepressiva und Hypnotika festzustellen", so der Report. "In diesen Bereichen bekommen Frauen zwei- bis dreimal mehr Arzneimittel verordnet als Männer." Und das, obwohl diese Mittel oft abhängig machen - und bei Frauen Medikamente oft sogar stärker anschlagen.

Weniger Gewicht, ein anderer Hormonhaushalt, ein höherer Körperfettanteil - obwohl Frauen typischerweise andere Anlagen haben als Männer, sind die Verordnungshinweise vielfach gleich. Viele Mittel wirken bei Frauen dann stärker - auch bei den Nebenwirkungen.

Beispiel Antidepressiva. Für eine bestimmte Art dieser Mittel, den sogenannten Serotonin-Wiederaufnahmehemmern, fanden die Autoren des Barmer-GEK-Reports heraus, dass die Ärzte den Frauen diese weit länger verschreiben. Auch die oft wohl zu sorglose Gabe von Beruhigungsmitteln besorgt die Forscher.

Frauen reden mehr über ihre Probleme

Als Grund für die höhere Verschreibung von Psychopharmaka nennt der Bericht allerdings keine medizinischen Ursachen, sondern die größere Offenheit von Frauen. "Frauen gehen offener mit ihren psychischen Beschwerden um", sagte der Autor des Barmer-GEK-Reports, Gerd Glaeske vom Zentrum für Sozialpolitik Bremen der Deutschen Presse-Agentur dazu.

"Anstatt dass die Ärzte ihnen zu einer psychologischen Behandlung raten, verschreiben sie ihnen zu oft Arzneimittel", so Glaeske weiter. "Frauen werden oft in die Abhängigkeit hineintherapiert." Typischerweise beginne so eine Karriere der Medikamentensucht im Alter zwischen 45 und 50 Jahren. Die Kinder seien aus dem Haus, eine neue Perspektive fehle oft. "Dann werden die ersten Präparate dieser Art verordnet", so Glaeske. Auch Schmerzmittel würden häufig verschrieben, oft schon in jungen Jahren, gegen bei den ersten Menstruationsbeschwerden. "Wir müssen aufpassen, dass wir nicht ein Heer von Abhängigen erzeugen", sagte Glaeske.

Negativ-Liste mit gefährlichen Effekten bei Frauen

Ein vom Robert-Koch-Institut herausgegebener Bericht über "Gesundheit von Frauen und Männern in mittleren Lebenslagen" deutete schon 2005 auf unterschiedliche Herangehensweisen der Ärzte hin, "wodurch möglicherweise die gleichen Symptome bei Frauen und Männern unterschiedlich erklärt, diagnostiziert und behandelt werden". Frauen könnten also wegen Rollenklischees häufiger als psychisch, Männer als körperlich belastet eingestuft werden.

Glaeske fordert deshalb, Patientinnen vor riskantem Pillenverordnen zu schützen: "Wir brauchen eine Negativliste, welche Ärzte verlässlich über Wirkstoffe informiert, die bei Frauen gefährliche Effekte auslösen können."

Doch schon vor Praxis und Klinik könnten Änderungen ansetzen. Im vergangenen Jahr zielte eine Anfrage der Grünen-Fraktion im Bundestag darauf ab, ob Patientinnen bei Zulassung und Prüfung von Arzneimitteln ausreichend berücksichtigt werden. Die Grünen-Gesundheitsexpertin Birgitt Bender kam zum Ergebnis: Werden sie nicht. Die zuständigen Behörden erfassten den Bereich nicht ausreichend. Bender: "Die Bundesregierung hat kein Interesse, hier Abhilfe zu schaffen."

(dpa)
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