Bis Jahresende 100.000 Infizierte Ebola — die Pest des 21. Jahrhunderts

Düsseldorf · Die Kulturgeschichte hat in Seuchen stets eine große Faszinationskraft gesehen. Maler, Schriftsteller, Filmregisseure, Opernkomponisten haben etwa die verheerende Wucht von Pest-Epidemien mehrfach beschrieben.

So sieht die Sonderisolierstation in Düsseldorf aus
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Foto: dpa, fg

Trotz des Grauens, das seine Augen erfasst, verliert dieser Arzt nicht die Fassung, er klagt nicht einmal. Stumm geht er seiner Pflicht nach. Er ist Atheist und glaubt einzig an seine Liebe zu den Menschen, die — ohne Schuld — durch eine heimtückische Krankheit sterben wie Fliegen. Doch irgendwann wird der Arzt über die Seuche sagen: "Wenn man das Elend und den Schmerz sieht, den sie mit sich bringt, dann muss man verrückt, blind oder feige sein, um sich mit dieser Krankheit abfinden zu können." Er würde diesen Satz am liebsten aus sich herausschreien. Aber der Arzt namens Rieux bleibt gefasst.

Dieser Satz ist ein zentrales Bekenntnis in Albert Camus' grandiosem Roman "Die Pest" aus dem Jahr 1947 — schonungslos umreißt er die Dimension der Sinnlosigkeit, um die es bei diesem französischen Autor allgemein und in diesem Werk besonders geht. Das Absurde und sich dem Verstand Verweigernde wird in Camus' Schilderung eines Pest-Ausbruchs in der algerischen Küstenstadt Oran zum zentralen Motiv. Und man muss nicht lange überlegen, um in diesem Werk die sowohl literarisch als auch infektiologisch sehr präzise Skizze einer Epidemie zu sehen - einer Epidemie auch wie Ebola.

In Camus' Meisterwerk sind alle Faktoren in expressiver Prosa verdichtet, welche die ratlose Welt in diesen Tagen aus den Nachrichten erfährt: die exponentiell schnelle Verbreitung der Seuche; die häufige Korrektur der Prognose zu den Opferzahlen nach oben; das Missverhältnis zwischen Sterbenden und Geheilten; die verzweifelt angeordnete und nicht konsequent durchgehaltene Isolierung der betroffenen Region, wodurch Liebende getrennt werden und Hilfe nicht ankommt; die mangelnden Medikamente; die blutige Zerstörungskraft des Krankheitsverlaufs; die Inkompetenz bei der Hygiene und Quarantäne; die Verzweiflung bei der massenhaften Entsorgung von Leichen; die Helfer, die sich selbst infizieren und dann sterben; die Anrufung eines ohnmächtigen Gottes - all dies hat Camus im Jahr 1947 seherisch beschrieben. Ahnte er, dass die Pest in Oran nicht die letzte Seuche auf Erden war?

Camus war auch nicht der erste Autor von Rang, der sich mit dem Wesen der Seuche beschäftigte (und sie auch als Chiffre für die Zeit nutzte - bei Camus war es der Nationalsozialismus). Im "Decamerone" von Giovanni Boccaccio (um 1350) wird ein Pest-Ausbruch in Florenz so detailgenau eingefangen, dass man sich bildlich noch Jahrhunderte später diese Schilderungen vor Augen führte. Die Pest blieb über Jahrzehnte ein Mythos, der auch die Kulturgeschichte infizierte. Böcklin malte die große Todbringerin, F. W. Murnau, Ingmar Bergman oder Werner Herzog verfilmten sie; die Ratte und der Sensenmann als grausige Embleme wurden sprichwörtlich. Die Pestsäule am Wiener Graben ragt als steiles Monument schrecklicher Erinnerung auf.

Die Seuche von heute heißt Ebola. In der Tat sehen wir am Ebolafieber und seiner Unaufhaltsamkeit hin zu längst mehreren Tausend Toten die typischen Zeichen der ungebändigten Epidemie, bei der alle Verantwortlichen zur fortwährenden Korrektur ihrer Einschätzung gezwungen werden. Jetzt spricht die Weltgesundheitsorganisation WHO ganz offen von bis zu 10.000 Neuinfektionen pro Woche — das heißt, wir müssten zum Jahreswechsel etwa 80.000 bis 100.000 Infizierte in Westafrika befürchten; ganz davon abgesehen, wie unabsehbar hoch die Dunkelziffer ist.

Die größte Sorge gilt nicht der Möglichkeit, dass sich aus der Epidemie eine Pandemie entwickeln könnte - die Gefahr der Globalisierung des Ebola-Virus sieht niemand ernstlich. Vielmehr muss man um Westafrika bangen, für das Ebola die internationale Vereinsamung bedeuten könnte, womöglich die größte Belastungsprobe der Völkergemeinschaft seit dem Zweiten Weltkrieg. Wenn die Welt nicht in Afrika hilft, drohen drei Länder ausgelöscht zu werden; die einzige Alternative besteht darin, dass Westafrika zum dauerhaften Interventionsgebiet der westlichen Welt wird. Außerdem besteht die Gefahr einer Stigmatisierung der bloßen Hautfarbe: Ein Arzt aus Kamerun, der seit Langem in Leverkusen lebt und leichten Schnupfen bekommt, wird zum Gespenst, vor dem alle den Bürgersteig wechseln.

Die wichtigsten Fakten zu Ebola
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Vorschnell hat die Welt das Ende der Seuchen reklamiert und sich in der Betriebsblindheit eingerichtet. Tatsächlich sind einige Erreger nie ausgestorben und plagen uns, etwa durch Ost-Import, hartnäckig: Tuberkulose oder Syphilis. Aids hat an Schrecken verloren; mancher Arzt hält diese Seuche wegen der effektiven medikamentösen Mehrfach-Therapie nicht zu Unrecht für eine beherrschbare, allerdings chronische und von argen Nebenwirkungen beeinträchtigte Krankheit. Zu heilen ist die HIV-Infektion nicht. Dass es trotzdem jährlich weltweit noch über zwei Millionen HIV-Neuinfektionen gibt, das beweist den nach wie vor hohen Aufklärungsbedarf. Leider erreichen wichtige Informationen und Kampagnen eine in sexueller Sicht wieder zunehmend sorglose Menschheit nicht.

Ebola - Von ersten Fällen zum Internationalen Gesundheitsnotfall
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Foto: Festa/ Shutterstock.com

Auch der Pest-Erreger ist bis heute nicht aus der Welt verbannt, im Gegenteil. Immer wieder flammen irgendwo, wenn auch regional begrenzt, kleine Pest-Ausbrüche auf. Im Gegensatz zum Pest-Erreger ist gegen Ebola kein Medikament gewachsen, virologisch und pharmakologisch befindet sich die Welt in einer absolut prekären Situation. Außerhalb des Körpers ist das Virus (ein erforschter Keim aus der Gruppe der Filoviren und darin Schwester des ähnlich gefährlichen Marburg-Virus) gut zu packen; auf Desinfektion reagiert es direkt. Doch hat es sich den Weg in den Körper gebahnt, ist es ein Monster, das jede Gefäßwand, jedes Organ angreift. Dabei ist es nicht wählerisch. Es vermehrt sich so schnell, dass man nicht zuschauen kann. Ebola ist die Pest, über die Albert Camus heute schriebe.

(RP)
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