Tipps für den Klinikaufenthalt Bei der Visite sollten Patienten mehr fragen

Düsseldorf · Im Kontakt zwischen Arzt und Patienten mangelt es nicht selten an "Wissenssolidarität". Beide Seiten können das Klima verbessern.

Bei der Visite sollten Patienten mehr fragen
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Plötzlich wird es weiß vor seinen Augen, er hatte noch gedöst, weil die Angst, die neue Umgebung und vor allem die Schmerzen seine Nacht geschreddert hatten. Nun blendet ihn der Aufmarsch derer, die ihn heilen. Die Stimmung ist feierlich und das Wort "Hofstaat" nicht zu hoch gegriffen - es ist Visite, der sehnlich erwartete Besuch der Ärzte, Schwestern und Pfleger. So viel will er sie fragen, so vieles ist noch unklar, vor allem: Wird er wieder ganz der Alte? Nach drei Minuten zieht der Besuch ab, an die Fragen kann er sich nicht mehr erinnern, nur noch an die Blicke: von oben herab, neutral, ein wenig gedankenverloren. Er selbst war kaum zu Wort gekommen. Die einzige Frage, die ihm im Gedächtnis geblieben ist, war die erste: "Wie geht's uns denn heute?"

Die Visite am Krankenbett ist der Lackmustest für die ethische Kompetenz eines Krankenhauses. Flyer fast aller Kliniken singen das Hohelied auf ihre Patienten-Zugewandtheit, doch meist sind sie das Papier nicht wert, auf dem es gedruckt steht. Das hat nichts mit schlechtem Willen der Heilkundigen, sondern mit einem systemischen Fehler zu tun: Ärzte werden von einem absurden Zeitdruck, einem rigiden Controlling gehetzt - oft auch von ihren Chefärzten, die ihre Bonus-Vereinbarungen erfüllt sehen wollen. Der Stellenabbau in Kliniken verschärft die Situation. Darunter leidet die Visite. Das führt zu der kuriosen Wahrnehmungsdifferenz, dass die Ärzte einen Patienten sehr gut behandelt glauben, der Betroffene das aber völlig anders sieht: Die sind gar nicht auf mich eingegangen!

Patienten haben natürlich nicht gelernt, wie sie sich als Abhängige und in jeder Hinsicht Unterlegene verhalten sollen. Sie überfordert die Situation, in der fast alles in ihrer persönlichen Angelegenheit über sie hinweg zu geschehen scheint. Nur wenige Kranke entwickeln sich zu Profis, die mit den Ärzten über Laborwerte diskutieren können ("Sollten wir mein Bilirubin von gestern nicht als Normvariante werten?"). Mehr Patienten aber gelingt es, sich binnen kürzester Zeit beim kompletten Stationspersonal unbeliebt zu machen. Das bekommen sie dann auch bei der Visite zu spüren.

Trotzdem ist die Sprache das Übel. Der Ärztetext ist faktenorientiert; Therapiepläne müssen dokumentiert und zügig umgesetzt werden ("dann bekommt er jetzt Novalgin nach Bedarf!"). Das geschieht - weil der Patient liegt, alle anderen stehen - nie auf Augenhöhe. Aber die Fachsprache schafft Distanz: "Wir sollten differenzialdiagnostisch noch die ANAs bestimmen."

Hinzu kommt die rituelle Komponente: "Es ist in der Choreografie der Visite angelegt, dass hier der Mensch vor den Augen einer Gruppe zum Objekt gemacht wird." Das schreibt Clemens Sedmak in seinem Buch "Mensch bleiben im Krankenhaus". Damit meint er, dass es dem Personal oft nicht gelingt, die erlernte und ererbte Rolle zu verlassen. Die Oberärzte müssen aufpassen, dass die Assistenzärzte keine Fehldosierung mit Todesfolge anordnen. Die Stationsärzte müssen schauen, dass die Pflege die Anweisungen sofort umsetzt. Andererseits sind etliche Pflegekräfte selbst geheime Oberärzte, die schon viel gesehen haben und deren Rat oft segensreich ist.

Die Chefärzte schließlich visitieren die sogenannten "Pelztiere" der Privatstation (sofern sie das nicht, vor allem am Wochenende, an die Oberärzte delegieren) und schreiten einmal die Woche über den Normalflur. Dazu fällt dem Betrachter dieser Oberhäupter der Titel einer Arie aus Haydns "Schöpfung" ein: "Mit Würd' und Hoheit angetan". Der Wahrheit halber muss gesagt werden, dass es mittlerweile nicht wenige Chefs gibt, die sich täglich auch die Kassenpatienten ansehen.

Dass diese Visiten oft im Frühtau, etwa gegen 7.30 Uhr, stattfinden, ist gewiss sinnvoll, weil danach die Behandlungen des Tages gut sortiert werden können. Andererseits ist diese frühe Zeit auch ein Signal: Es ist ein Termin, der vor der eigentlichen Arbeit möglichst zügig zu absolvieren ist. Intuitiv spüren das die Patienten. Sie sollten aber auch wissen: Visite wird im System nicht angemessen honoriert. So wird sie dann auch behandelt. In der Tat gibt es Ärzte, die die "Prävisite" auf dem Flur für ausreichend halten.

Professor Hubert Schelzig, Chef der Gefäßchirurgie an der Uniklinik Düsseldorf, sieht das anders: "Zentraler Punkt ist die Zuwendung zum Patienten. Ihm gebührt die Rolle des entscheidenden Subjekts; der Arzt sollte im Sinne einer fachmännischen Beratung auftreten. Eine gute Visite räumt dem Patienten die Gelegenheit ein, unmittelbare Probleme auf dem Weg zur Genesung anzusprechen. Wichtig ist, dass Arzt und Patient dabei eine Sprache sprechen." Dies ist das Kernproblem: "Aus meiner Sicht", so Schelzig, "zeichnet den guten Arzt aus, dass er komplexe Sachverhalte einfach und verständlich darstellt." Bernard Lown, Medizinprofessor in Harvard, nennt diese sprachliche Übereinstimmung von Arzt und Patient "Wissenssolidarität".

Patienten sollten den Zipfel Zeit in der Visite aber besser nutzen. Ärzte schätzen es, wenn Patienten präzise Fragen vorbereiten. Warum sollte der Medicus einen Patienten, der lethargisch im Bett liegt oder ins TV starrt, in eine ausführliche Disputation über postoperative Schmerzen einer Kniegelenks-Spiegelung verwickeln? Aber jene Fragen sollten begrenzt und nicht wie bei Günther Jauch in aufsteigender Schwierigkeit notiert sein.

Patienten sollten auch nicht von Tante Hildegard erzählen, die vor drei Jahren ebenfalls ein neues Hüftgelenk eingebaut bekam.

(RP)
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