Obwohl Lebenserwartung steigt Arme sterben früher

Wiesbaden · Die Deutschen leben immer länger. Für den Einzelnen ist das eine gute Nachricht, für die Gesellschaft eine große Herausforderung. Und nicht alle Menschen profitieren.

Die Lebenserwartung in Deutschland steigt und steigt. Wer zwischen 2009 und 2011 geboren wurde, kann als Junge mit 77 Jahren und 9 Monaten rechnen, neugeborene Mädchen werden durchschnittlich 82 Jahre und 9 Monate alt. Damit werden Jungs nochmal drei und Mädchen nochmal zwei Monate älter als die Neugeborenen der Jahrgänge 2008 bis 2010. Statistisch gesehen wird jeder zweite Mann in Deutschland wenigstens 80 Jahre. Jede zweite Frau erlebt ihren 85. Geburtstag.

"Wenn sich die Entwicklung der Lebenserwartung zukünftig so fortsetzt wie in der Vergangenheit, ist damit zu rechnen, dass die Lebenserwartung für beide Geschlechter weiter beträchtlich ansteigen wird", sagt Dieter Emmerling vom Statistischen Bundesamt in Wiesbaden, das am Dienstag neue Zahlen vorlegte. Denn die steigende Lebenserwartung ist ein sehr stabiler Trend.

Kein Ende in Sicht

Bereits seit etwa 170 Jahren werden die Menschen in den Industrieländern immer älter. "Im Durchschnitt der letzten zehn Jahre steigt die Lebenserwartung in Deutschland bei Männer alle fünf Jahre um ein Jahr, bei Frauen ist es etwas weniger", sagt Rembrandt Scholz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock. Ein Ende der Entwicklung ist nicht in Sicht. "Wir gehen zwar davon aus, dass es eine Grenze gibt, aber bislang sehen wir sie nicht."

Was die Statistik nicht zeigt: Reiche haben eine deutlich höhere Lebenserwartung als Arme. Das ist das zentrale Ergebnis einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und des Robert Koch-Instituts (RKI). Die jährliche Befragung von 11.000 Haushalten seit 1984 ergab, dass Frauen aus armen Haushalten dreieinhalb Jahre früher sterben als wohlhabende Frauen. Männer aus Haushalten mit wenig Geld leben durchschnittlich fünf Jahre kürzer als ihre bessergestellten Geschlechtsgenossen.

"Es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Lebenserwartung und Einkommen", erklärt Martin Kroh, Professor für Empirische Sozialforschung am DIW. Zwei Gründe könnten dafür verantwortlich sein: dass sich Arme Gesundheitsförderung und -versorgung nicht leisten können oder dass sie einen ungesünderen Lebenswandel haben.

"Vermutlich ist die Wahrheit eine Mischung aus beidem." Bei armen Männern scheint eine geringere Bildung und höhere körperliche Belastung im Beruf die Lebenszeit zu verkürzen, bei Frauen die psychische Belastung durch Geldnot und weniger soziale Kontakte.

Städtevergleich

Auch regional ist die Lebenserwartung nicht gleichmäßig verteilt. Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung hat die Lebenserwartung in einzelnen Städten berechnet. Am ältesten werden Männer demnach in Heidelberg, Freiburg und Heilbronn sowie Frauen in Dresden, München oder Stuttgart. Die geringste Lebenserwartung hatten beide Geschlechter in Suhl und Pirmasens. Der Unterschied beträgt immerhin sieben bis acht Jahre.

Was für den Einzelnen ein Segen ist - ein möglichst langes Leben - stellt die Gesellschaft vor große Herausforderungen. "Derzeit müssen 100 Menschen im erwerbsfähigen Alter 32 Über-65-Jährige mitfinanzieren. 2050 werden es 65 sein", rechnet Prof. Gerd Glaeske vom Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen vor.

"Der Pflegenotstand wird sich verschärfen", sagt der Gesundheitsforscher. Und auch das Gesundheitswesen stehe vor großen Herausforderungen: Wenn es immer mehr Hochbetagte gibt, leiden immer mehr Menschen an Alterskrankheiten wie Demenz, 2050 könnte es doppelt so viele Demente geben wie heute. Dazu kommt, dass chronisch Kranke immer älter werden. "Heute bekommen die Leute Diabetes mit 60 und sterben mit 80. Wenn die Lebenserwartung weiter steigt, bekommen sie Diabetes mit 60 und sterben mit 90."

In den kommenden 50 Jahren wird die durchschnittliche Lebenserwartung in den Industrienationen um weitere sieben Jahre steigen, schätzt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Seit 1960 hat sich die Lebenserwartung laut OECD bereits um eine Dekade verlängert.

Die Bundesrepublik ist heute schon das "Altersheim Europas". Im Jahrbuch 2011 des Europäischen Statistikamtes Eurostat führt Deutschland gleich zwei Tabellen an: als Land mit dem geringsten Anteil an Jugendlichen und dem höchsten Anteil an Rentnern aller 27 Staaten.

(dpa)
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