Bruxismus Wie der Körper unter Zähneknirschen leidet

Düsseldorf · Nachts knirschen viele unbewusst mit den Zähnen. Die Folgen können von Zahnverschleiß über Sehstörungen bis Rückenschmerzen reichen. Wir erklären, was beim Knirschen im Körper passiert und zeigen in einem Video, mit welchen Übungen Sie selbst gegen die Beschwerden angehen können.

Der Zahnarzt schaut mit Schrecken auf den Abrieb. Die Physiotherapeutin tastet zigarrendicke Verhärtungen auch in der Nackenmuskulatur. Der Ohrenarzt hört sich die Klage über einen seltsamen Tinnitus an, obwohl der Patient perfekt hört. Der Orthopäde muss sich um Probleme in dessen Schulter kümmern. Der Augenarzt prüft kuriose Einbußen beim Sehvermögen. Der Neurologe überlegt bereits den Einsatz eines Nervengiftes. Der Internist sorgt sich um suboptimale Werte bei der nächtlichen Sauerstoffversorgung. Und der Psychologe guckt tief in die Seele eines Patienten, in dessen Nächten offenbar rohe Kräfte sinnlos walten.

Acht Fälle? Nein, nur ein einziger. Das aber macht die Sache so kompliziert. Hier hängt alles zusammen, und wie so oft in der Medizin überlagern sich die Symptome und weisen unerwartet auf andere fachärztliche Zuständigkeiten hin. Und in der Tat handelt es sich hier um ein Leiden, das schwer zu fassen und auch nicht leicht zu behandeln ist. Dabei ist es eine Volkskrankheit: Bruxismus, das Zähneknirschen. Es tritt oft als Folge oder als Ursache einer anderen Störung auf, der Cranio-mandibulären Dysfunktion (CMD). Dieses Monster auch in der Fachsprache beschreibt eine Fehlregulation der Kiefermuskulatur und -gelenke sowie des Zahnkontaktes; die kann sich in einer überspannten und verkrampften Kaumuskulatur zeigen. Die Baustellen der CMD reißt schon ihr Name auf: "cranium" ist der Schädel, "mandibula" der Unterkiefer.

Schiene vom Zahnarzt Der Dentist sieht dem Patienten, der vor allem nachts knirscht, das zerstörerische Werk rasch an. Sein Entschluss ist ökonomisch und klug: Die Zähne müssen daran gehindert werden, dass sie einander Schaden zufügen. Deshalb wird dem Patienten eine Knirscherschiene angepasst. Die trägt er nachts, und fortan sind seine Zähne geschützt. Und die Ohren des Partners oder der Partnerin im Bett ebenso. Vom Knirschen hört die Umgebung viel, sein Produzent hingegen ziemlich wenig. Es ist wie mit dem Schnarchen: Davon kriegt auch kein Schnarcher etwas mit. Hören kann jeder auch das Reiben und Knacken im Kiefergelenk. Für den Zahnarzt ist es ein weiteres Indiz, genauer zu forschen. Wie ist der Zahnstand? Fehlt da etwas? Stehen Kronen zu hoch? Wie kaut der Patient eigentlich? Bekommt er die Nahrung von der einen in die andere Ecke? Müssen wir röntgen? Es leuchtet ein, dass die Knirscherschiene symptomatisch wirkt und die Folgen für die Zähne begradigt. Ihre Rückkopplung ins Gehirn ist allerdings nicht so stark, denn der Knirscher knirscht kaum weniger, wenn er eine Schiene im Mund trägt. Er richtet indes keinen Schaden mehr an. Manche knirschen unter Stress übrigens auch tagsüber — daher der Spruch, dass sie die Zähne aufeinanderbeißen. Das sind die Leute, denen vor Schreck die Kinnlade, die "mandibula", nicht mehr herunterfallen kann. Sie klemmt.

Griff in die Muskulatur Gute Zahnärzte und gute Physiotherapeuten mit CMD-Qualifikation kommen dieser gewaltigen Wucht im Kiefer genauer auf die Spur. Sie sehen es mit eigenen Augen: wie sich der Kiefer asymmetrisch öffnet und wieder schließt. Wie er zu sperren scheint. Wie sich der Mund überhaupt nicht mehr richtig weiten will. Wie die Zähne nicht optimal übereinanderstehen. Wer jemals eine ausführliche physiotherapeutische Anamnese bei einem Patienten mit CMD-Verdacht erlebt hat, der staunt, dass selbst zurückhaltende und gesittete Patienten einen Ambulanzraum vor lauter Schmerzen zusammenschreien können. Es gibt da nämlich ein paar Schurkenhunde in der äußeren und inneren Kaumuskulatur, die schon auf leichtes Kneten hochgradig sensibel reagieren. Diese Muskeln heißen Temporalis, Masseter oder Pterygoideus; auch noch einige andere wüsste der Profi zu benennen. Der Diagnostik folgt die Therapie im besten Fall unmittelbar. Der Patient kann sich diese Muskeln nämlich selbst vornehmen und präzise massieren. Massieren Sie den Masseter! Das sollte man allerdings nur nach Anleitung, sonst knetet man falsch. Natürlich inspiziert jeder Physiotherapeut auch die Nackenmuskulatur seines CMD-Patienten, denn da geht es nicht selten ebenso verspannt zu — Kräfte von oben, die sich eine Etage tiefer fortsetzen. Wer dann allein zur Massage oder Physiotherapie läuft, der hilft kurzzeitig nur dem Nacken, aber stellt das Problem nicht ab. Es ist ja die CMD. Sie strahlt sogar in den Kopf aus. Wenn sie stark ausgeprägt ist, kennt sie kaum Gnade. Und gute Neurologen können eine CMD sogar dokumentieren, indem sie in die betroffenen Muskeln stechen und deren Aktivität im Rahmen einer Elektro-Myografie (EMG) messen.

In der Nähe des Ohres Es zählt zu den Besonderheiten der menschlichen Anatomie, dass in gewissen Regionen manches überaus eng beieinanderliegt. Zum Beispiel das Kiefergelenk und das Ohr: Da gibt es auf wenigen Millimetern nebeneinander Nerven, Muskeln, Gewebe, Sehnen, Knochen, Blutgefäße, Röhren, Bänder, Schleimhaut — und selbstverständlich kann auch eine CMD die Umgebung kontaminieren. Es gibt nicht wenige Patienten mit Ohrenrauschen (Tinnitus), bei denen der Hörtest jungfräulich ausfällt, was den Ohrenarzt verdutzt: Tinnitus ist ja häufig mit einer Hörminderung verbunden; er gilt jedenfalls klassisch als HNO-Baustelle. In Wirklichkeit sind CMD-Patienten, die über ein Ohrengeräusch klagen, nicht gerade selten. Auch das Auge kann leiden. Leider zählt es zu den Eigenheiten des Medizinsystems, dass der Grenzverkehr der Diagnostiker oftmals durch Schranken (auch der Inkompetenz) versperrt scheint.

Die Seele heilen? Wie bei allen Krankheiten ist die Suche nach ihrem Mutterboden mühsam. Warum knirscht der Knirscher? Was erlebt er nachts? Was macht seine Seele mit? Was molestiert sie? Warum wütet sie in Unterkiefer und Zähnen, statt sonstwie auf den Tisch zu hauen? Solche Fragen überschreiten die Kompetenz des Zahnarztes und aller anderen Fachleute, sie fallen ins Aufgabengebiet der Psychotherapie. Und ausschließlich in sehr erfahrene neurologische Hände gehört Botulinumtoxin, kurz Botox. Dieses Nervengift kann die besonders renitenten Muskeln nämlich ein bisschen lähmen. Aber wer das bei sich machen lässt, bei dem muss schon nichts anderes mehr helfen.

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