Sprechstunde Paul Dann Wenn ein Bein länger ist als das andere

Der Beckenschiefstand ist ein häufiger Grund, dass Menschen die orthopädische Praxis besuchen.

Unser Leser Karl H. (49) aus Düsseldorf: "Als Kind habe ich eine einseitige Einlage wegen Beckenschiefstand tragen müssen. Jetzt, 37 Jahre später, geht mein Orthopäde weiterhin von einer Beinlängendifferenz aus und möchte einen Ausgleich vornehmen. Was wissen Sie hierzu?"

Paul Dann Als Beinlängendifferenz beschreibt die Medizin einen Längenunterschied des Beines von der Hüfte bis zum Fuß. Es gibt zum einen die anatomische Beinlängendifferenz; hierbei muss ein Unterschied der Knochenlänge bestehen. Zudem gibt es die funktionelle Beinlängendifferenz. Diese entsteht aufgrund von Verkürzungen der Muskeln und des Kapsel-Band-Apparates oder durch Fehlstellungen einzelner Gelenke.

Als Ursache für die anatomische Beinlängendifferenz gelten Fehlbildungen wie einseitiges X- oder O-Bein und auch Fehlformen der Hüftgelenke. Bei den erworbenen Differenzen gilt die Verletzung als häufigster Grund. Dazu zählen Knochenbrüche und Wachstumsfugen-Beschädigungen. Eine leichte Differenz führt nur selten zu Beschwerden, da sie gut kompensiert wird. Ein minimaler Beckenschiefstand ist meist kaum auffällig. Er kann aber auch ein Verkürzungshinken und eine Wirbelsäulenverkrümmung (Skoliose) begründen. Damit sind kleinere Unterschiede nicht behandlungsbedürftig, da die meisten Menschen geringe asymptomatische Beinlängendifferenzen zeigen.

Größere Differenzen können jedoch schwere Folgen für das Muskel- und Skelettsystem haben. Interpretierte man den Menschen noch vor Jahrzehnten eher als mechanischen Apparat, haben mittlerweile Erkenntnisse aus der Neurologie Einzug in die orthopädische Sicht gehalten. Die Unterschiede sind offensichtlich: Sieht man den Menschen rein unter anatomischen Gesichtspunkten, dann muss auch mechanisch therapiert werden. Ist das rechte Bein um einen Zentimeter verkürzt, so müsste die rechte Schuhsohle auch um genau einen Zentimeter erhöht werden, um das kürzere Bein auszugleichen. Mittlerweile weiß man, dass dies leider nicht so einfach ist.

Durch die vielen zwischen den Wirbeln aufgespannten Muskeln kann das Gehirn die Stellung der Wirbelsäule genau regeln. Indem das zentrale Nervensystem die Aktivität einzelner Muskelgruppen verstärkt oder schwächt, wird die Verbiegung der Wirbelsäule fast stufenlos geregelt. Damit das Gehirn weiß, in welcher Position die Wirbelsäule geradesteht, liefern unzählige Sinneszellen in den Wirbelgelenken und in den Muskeln Informationen über die Ausrichtung der einzelnen Wirbel. Ist ein Mensch nun mit einer Becken- und folglich auch Wirbelsäulenfehlstellung groß geworden, so hat sich das Nervensystem an die fehlerhaften Signale gewöhnt.

So wird ein Orthopäde auch sehr vorsichtig sein, einen Beckenschiefstand, der erst im erwachsenen Alter Beschwerden verursacht, nur nach mechanischen Gesichtspunkten auszugleichen. Zu groß ist die Gefahr, die Wirbelsäule aus ihrem labilen Gleichgewicht zu bringen. Bislang wird in solchen Fällen nach einer Faustformel therapiert, nach der etwa 60 Prozent des Beinlängenunterschiedes mit Schuh oder Einlagen ausgeglichen werden. Neuere Untersuchungen aus dem Bereich der Neuroorthopädie zeigen aber, dass nicht jeder Mensch gleich gut auf diese Therapie reagiert.

Moderne Arztpraxen bieten ein Untersuchungsverfahren an, mit dem die Körpersymmetrie ohne Strahlenbelastung untersucht werden kann. Hinter dem Namen "3D-Rasterstereographie" verbirgt sich eine Art Diaprojektor, der ein Linienraster auf den Körper projiziert. Ein Computer berechnet daraus die räumliche Verdrehung der Wirbelsäule. Dadurch erhält der Arzt einen konkreten Überblick über eventuelle Beckenverwringungen und einen Beckenschiefstand. Für die Füße wird ein 3D-Scanner eingesetzt, der den Fuß als dreidimensionales Modell abbildet. Eine passende Einlage wird aus dem 3D-Bild am Computer erstellt, und die Daten werden an eine Fräsmaschine übermittelt. Damit kann die orthopädische Schuheinlage den gezielten und angepassten Einfluss auf eine verbesserte Statik des gesamten Körpers nehmen. Ob mit oder ohne Ausgleich, entscheidet allein der Arzt.

Paul Dann ist Orthopäde, Rheumatologe und Osteologe in Düsseldorf.

(RP)
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