Horrorvorstellung Wach trotz Narkose — wie kann das passieren?

Krefeld · Eine Horrorvorstellung: Trotz einer Vollnarkose mitten in der Operation wach zu werden und zu spüren, wie die Ärzte das Skalpell ansetzen, ihre Stimmen zu vernehmen und Schmerzen zu spüren. Was wie ein Horrorfilm klingt, wird für einige Menschen schreckliche Wirklichkeit. Wir erklären, wie das passieren kann, und wer gefährdet ist.

Wach während der OP - die Risikofaktoren
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Wach während der OP - die Risikofaktoren

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Foto: dpa, Jens Schierenbeck

Rechtzeitig vor einer Operation mit Hilfe der Anästhesie die Augen schließen zu können und nicht miterleben zu müssen, wie die Chirurgen schneiden und nähen, das ist ein Segen. Doch nicht immer läuft das so glatt, wie gewünscht. Frauen berichten von Kaiserschnitten, die sie bei vollem Bewusstsein erlebt haben, andere lauschen unfreiwillig bei ihrer eignen Operation den Gesprächen der Ärzte, hören und fühlen wie sie aufgeschnitten werden. Bei 24.000 Narkosen kommen statistisch gesehen fünf Patienten zu Bewusstsein. Was den Einzelnen dann als traumatische Erfahrung längere Zeit begleitet, gilt gemeinhin als seltene Komplikation der Allgemeinanästhesie.

Trotz moderner Anästhesietechnik und der Überwachung der Narkosetiefe während der Operation, werden Patienten wach. Mediziner sprechen in solchen Fällen von "Awareness" oder intraoperativer Wachheit. Für die Betroffenen ist das ein Horrortrip. Manche berichten nachher von Gefühlen der Hilflosigkeit und Panik, von Todesangst oder Schmerzen. Besonders dann, wenn sie bei speziellen chirurgischen Eingriffen zusätzlich muskelentspannende Mittel bekommen haben. Die sorgen dafür, dass der Patient nicht plötzlich unerwartete Bewegungen macht und der Eingriff damit zum gefährlichen Zwischenfall wird.

Muskelrelaxanzien — Patient außer Gefecht

Umgekehrt verhindern solche Medikamente allerdings auch, sich bemerkbar machen zu können, wenn die Narkose nachlässt. In Extremfällen kann das dazu führen, dass sich der Patient trotz aufkommender Angst und reißenden Schmerzen nicht mitteilen kann. Er möchte schreien, doch seine Zunge gehorcht ihm nicht, die Augen bleiben geschlossen, die Gliedmaßen liegen schlaff auf dem OP-Tisch.

Nicht immer bemerken die Operateure und Anästhesisten solche Awareness-Fälle. Nicht in jedem Fall sind sie so deutlich, dass der Patient sie im Nachhinein noch konkret erinnern kann. Denn die Bandbreite der Wachheit ist groß, erklärt Prof. Elmar Berendes, Klinikdirektor und Chef der Anästhesie im Helios Klinikum Krefeld. "Einige berichten von intensiven Träumen, ohne ein bewusstes Wacherlebnis zu haben, andere sind hellwach", sagt der Mediziner. Von fünf angenommenen Statistikfällen bemerken die Anästhesisten im Durchschnitt ein bis zwei Fälle.

Von der Operation ins Trauma

Im Krefelder Klinikum geht man mit den statistischen Tatsachen offensiv um: "Seit 2013 klären wir die Patienten vor Eingriffen über die Möglichkeit auf", sagt Prof. Berendes. Man will mehr Sensibilisierung erreichen und so sicherstellen, dass sich Patienten mit solch folgenreichen Erlebnissen auch im Nachgang einer solchen Narkose den Ärzten anvertrauen. Andernfalls kann aus den ungewollten Erlebnissen eine posttraumatische Belastungsstörung erwachsen. Die Betroffenen leiden dann unter Alpträumen, Reizbarkeit, Depressionen, Schlaflosigkeit oder plötzlichen Panikattacken. Psychologen, die im Ernstfall direkt im Aufwachraum für den Patienten da sind, können helfen, solche Erlebnisse möglichst sofort und umfassend zu verarbeiten.

Daran machen Ärzte das Erwachen fest

An anderer Stelle setzen Monitoring-Verfahren an. Mithilfe des sogenannten Bispektralindex (BIS), bei dem über Stirnelektroden die Hirnaktivität gemessen wird, versucht man der Narkosetiefe auf die Spur zu kommen. Doch sind solche Verfahren kein Garant vor dem bösen Erwachen und deshalb auch umstritten. In einer britischen Studie ermittelten Forscher, dass dieses Verfahren die gefürchteten wachen Momente nicht zuverlässiger verhindern als andere. Zu denen zählt der Blick auf Blutdruck und Herzfrequenz. Steigen sie an, kann das der Hinweis auf Wachheit sein. "Auch kaltschweißige Haut und tränende Augen zählen dazu", sagt der Krefelder Anästhesist. Neben der Beobachtung vegetativer Veränderungen können zudem Schutzreflexe wie Husten oder Abwehrbewegungen deutliche Zeichen dafür sein, dass die Narkose dringend wieder vertieft werden muss.

Parallel zu der aufmerksamen Beobachtung am OP-Tisch bemühen sich die Narkoseärzte, die Zahl der Fälle zu reduzieren, indem sie solche Fälle dokumentieren und den Ursachen so beizukommen. In einem gemeinsamen Modellprojekt des Berufsverbandes Deutscher Anästhesisten (BDA), der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) und des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin (ÄZQ) befüttern Ärzte eine gemeinsame Datenbank mit Fallberichten zu Awareness. Doch moniert die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin, dass die "eingegangenen Fallberichte oft unvollständig sind und keine klaren Rückschlüsse zulassen".

Diese Menschen sind besonders gefährdet

Neben menschlichem Versagen im Operationssaal, wie verwechselten Spritzen bei der Narkoseeinleitung, kann der Auslöser auch in fehlerhaftem Gerät liegen. Daneben bringen einige Menschen besondere Risiken dafür mit. "Wenn ein Patient schon mal ein Wacherlebnis hatte, ist er besonders gefährdet, es erneut zu erleben", sagt Prof. Berendes. Die bestehende Erwartungsangst davor macht häufig eine höhere Dosierung des Narkosemittels notwendig. Ähnlich gelagert ist das auch bei Patienten mit Angststörungen. Berendes erinnert sich an einzelne Fälle, in denen Angstpatienten bis zur fünffachen Dosis der Normaldosierung benötigten. Das kann auch für junge und unerfahrene Mediziner verunsichernd, für den Betroffenen aber absolut notwendig sein.

Schwierig ist für die Anästhesisten auch die Begleitung von Notfallopfern und Herzkranken, bei denen sie zurückhaltend arbeiten müssen. Übergewichtige, Drogen- und Alkoholabhängige bilden ebenso wie Schmerzpatienten eine Risikogruppe für das Phänomen. Nehmen Menschen aufgrund chronischer Schmerzen häufig oder fortlaufend starke Schmerzmittel und Opiate, ist die Gefahr während der Operation zu erwachen deutlich höher. "Bei ihnen kann es dazu kommen, dass die vorhandenen Enzyme die NArkosemittel schneller abbauen", erläutert der Krefelder Spezialist. Zu einem ähnlichen Effekt kann es auch bei lokalen Betäubungen kommen, wie sie der Zahnarzt verabreicht.

Risikobehaftet sind besonders Kaiserschnittentbindungen. Bei einer Vollnarkose gehen die Narkosemittel auf das Kind über. Das kann zu Komplikationen beim Neugeborenen führen. Aus diesem Grund bemühen sich die Mediziner, die Narkose möglichst flach zu halten, mit dem unangenehmen Nebeneffekt, dass die Frauen den Kaiserschnitt ungeplant miterleben. Bei Kinderoperationen ist die Gefahr für Awareness um das acht- bis zehnfache erhöht.

Auch, wenn sie nicht zu den Risikogruppen zählen, treibt manchen die Sorge um, während einer OP trotz Narkose wach zu sein oder trotz Betäubung Schmerzen zu empfinden. Solche Ängste sollten sie unbedingt vor dem Eingriff mit dem Anästhesisten besprechen. Denn auch starker Stress und Angst erhöhen die Wahrscheinlichkeit für das Wachwerden.

(wat)
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