Übergewicht, Immunabwehr, Krebs So beeinflussen Darmbakterien unsere Gesundheit

Berlin/Eckernförde · Vitamin C und frische Luft sind gut und schön. Doch wie es um unser Immunsystem und Körpergewicht steht und sogar wie anfällig wir für Alzheimer sind, hängt vor allem von unserem Darm ab, sagt die Wissenschaft. Was Sie für Ihre Gesundheit und Ihr Traumgewicht über das Verdauungsorgan wissen sollten.

 Wenn das Immunsystem verrückt spielt oder die Waage Kapriolen schlägt, kommt der Darm als Ursache in Frage.

Wenn das Immunsystem verrückt spielt oder die Waage Kapriolen schlägt, kommt der Darm als Ursache in Frage.

Foto: Shutterstock/pikcha

Mikroben leben in uns und auf uns. Wissenschaftler bezeichnen sie in ihrer Gesamtheit als Mikrobiom. Sie machen rund zwei Kilo unserer Körpermasse aus das sind umgerechnet etwa hundert Billionen Mikroben — unvorstellbar viele. Die meisten von ihnen sind ausgesprochen wichtig für unsere Gesundheit. Sie leben in Symbiose und im Gleichgewicht mit unserem Körper. Rund 5000 verschiedene Bakterien tragen wir allein im Darm mit uns herum . "Die genaue Analyse einer einzigen Stuhlprobe würde für ein Mikrobiologisches Institut ungefähr ein Jahr Arbeit bedeuten", schildert Dr. Alexander Swidsinski, Oberarzt der gastroenterologischen Ambulanz und Leiter des Molekulargenetischen Labors für polymikrobielle Infektionen an der Charité.

Welchen Einfluss die unvorstellbar große Zahl an Mikroorganismen im Darm hat, ist nur in Ansätzen erforscht. Als wissenschaftlich erwiesen gilt jedoch der Zusammenhang zwischen diesem Organ und unserem Immunsystem. Chronische Darmerkrankungen wie Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn ergeben sich aus "einer Veränderungen des individuellen Profils der bakteriellen Zusammensetzung", erläutert Swidsinski. Und auch Reizdarm und Darmkrebs, Allergien, Übergewicht aber auch Parkinson und Alzheimer haben mit dem größtenteils unerforschten Mikrobiom zu tun.

Für Ernährungsforscher standen lange unangefochten Keime wie Bacteroides, Prevotella und Ruminococcus-Bakterien im Vordergrund. So machten Forscher vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung drei verschiedene Darmtypen aus. Diese lassen sich quer über den Globus verteilt ausmachen. Mit 70 Prozent am häufigsten vertreten ist demnach der Ruminococcus-Typ. Diese Bakterien, sind auch im Gedärm von Kühen zu finden. Sie sind für das Verdauen pflanzlicher Fasern verantwortlich. Damit sind sie so etwas wie ein evolutionäres Erbe aus Urzeiten, in denen der Urzeitmensch auf Fasern und Beeren kaute.

Daneben existiert der Prevotella-Typ. Dieses Bakterium dominiert im Darm von Vegetariern. Der Grund: Es hat sich auf den Abbau von Zucker-Protein-Verbindungen spezialisiert, die es bei Liebhabern von Gemüse und eiweißreicher Soja-Kost besonders findet. Mischkost-Esser beherbergen vor allem den Keim Bacteroides. Er ist auf die Energiegewinnung aus tierischem Eiweiß, gesättigten Fettsäuren und Mehrfachzucker spezialisiert.

Aus dem Blickwinkel der Ernährungsforscher macht es Sinn, diese Bakterien genauer zu betrachten. Aus Sicht eines Neurologen und Psychiater hingegen spielen unter den hundert Billionen andere die Hauptrolle. Es sind vor allem zwei Bakterien, die auch als Peace-Maker-Keime bezeichnet werden. Sie kommen insbesondere bei der Zersetzung von Milchprodukten und Faserstoffen ins Spiel und produzieren Buttersäure. Die gelangt über die Blutbahn ins Gehirn und stimuliert dort Fresszellen. "Diese fressen Eiweißablagerungen auf, die unter anderem zu Erkrankungen wie Alzheimer führen", erklärt Mikrobiologe Dr. Reinhard Hauss. "Wer bemerkt, dass es vergesslich wird, der sollte untersuchen lassen, ob ihm Buttersäure im Darm fehlt", rät Hauss. Einen Zusammenhang sehen die Forscher zudem mit Blick auf die Entstehung von Multipler Sklerose, Autismus oder Parkinson.

Bestimmte Milchsäurebakterien können dick machen. An Mäusen konnte man ein Ungleichgewicht des Verhältnisses zwischen Firmicutes und Bacteroides ausmachen. Firmicutes gehören zu den Milchsäurebakterien. Der dänische Biomediziner Oluf Pedersen zeigte in einer Studie, dass eine Überzahl dieser Bakterien im menschlichen Darm Übergewicht verursachen kann. Während schlanke Menschen weniger Firmicutes beherbergen, sind es bei Übergewichtigen viele. Besonders unglücklich: Diese Keime sind dafür bekannt, selbst schwer verdauliche Ballaststoffe in Zucker und gut verdauliche freie Fettsäuren umzuwandeln. Sie holen also selbst aus unverdaulichen Faserstoffen noch Kalorien. So wird ein Salatteller zur Kalorienbombe. "Das bringt in Summe bis zu zehn Kilo mehr Gewicht auf die Rippen", sagt Dr. Reinhard Hauss, der ein Laborleiter für mikrobiologische und enterale Diagnostik in Eckernförde leitet.

Wer auf Dauer sein Gewicht reduzieren will, kommt nach Auffassung Pedersens nicht umhin, auf eine ausgewogene Darmflora zu achten. Einen weiteren Einfluss darauf könnte die Behandlung mit Antibiotika haben. Über sie ist bekannt, dass sie nicht nur krank machende Erreger töten, sondern auch wichtige Darmbakterien. Das soll ebenfalls eine Gewichtszunahme begünstigen. Schon bei Babys wirkt sich deren Gabe auf das Körpergewicht aus: New Yorker Wissenschaftler fanden das bei Kindern heraus, die vor ihrem sechsten Lebensmonat Antibiotika bekommen hatten. Sie waren dicklicher als ihre Altersgenossen.

Auch Gastroenterologen wie Swidinski interessieren sich für Milchsäurebakterien. Allerdings in einer anderen Hinsicht. Wenn sich die Zahl der Milchsäurebakterien nämlich verringert, nimmt automatisch die Zahl von Fäulnisbakterien, Pilzen und ungünstigen Mikroben zu. Die Bakterien durchwandern dann die schützende Schleimschicht des Darms. "Je nachdem welche Bakterien den Mucus überwinden und wie der Organismus darauf reagiert, kommt es entweder zu einem Durchfall, einer allergischen Reaktion, Entzündung oder Tumorbildung", so der Berliner Gastroenterologe.

Das wirkt sich für die Betroffenen weit mehr aus als ihnen lieb ist. Ihre gesamte Darmflora baut sich um. "Je stärker die Veränderung, desto ernsthafter und anhaltender die Störung", so der Berliner Oberarzt. Typisch für Morbus Crohn-Patienten ist beispielsweise das komplette Verschwinden des Faecalibacterium prausnitzii.

Über ein neues Verfahren hoffen manche Forscher solchen Menschen zu helfen. Dazu soll über Stuhl die Darmflora Gesunder auf Patienten mit gestörter Darmflora übertragen werden. Auf diese Weise soll ihr Darmmilieu sich regenerieren. Lebensrettend könnte das in Zukunft für Menschen sein, die unter einer Infektion des Keims Clostridium difficile leiden. Den tragen die meisten Menschen in sich. Zum Problemkeim wird er erst, wenn Antibiotika ins Spiel kommen. Besonders lang andauernde Therapien mit Breitbandantibiotika machen die Darmflora derart platt, dass seine Stunde gekommen ist. Er produziert Gifte, die lebensbedrohlichen, chronischen Durchfall auslösen.

Gastroenterologe Alexander Swidsinski aber zweifelt an einer solchen Therapie. Doch auch das sieht der Berliner Gastroenterologe kritisch. "Das macht man so lange, bis der erste stribt. Denn es gibt keinen gesunden Stuhl. Er beinhaltet immer auch Patogene", warnt Swidsinski. Darmbakterien wie Bacteroides, Enterokokken oder Enterobakterien bezeichnet man als normale Darmflora, die in jedem gesunden Darm in hohen Konzentrationen vorkommen, also nicht ansteckend im üblichen Sinne sind. "Würde man jedoch diese Bakterien in anderes menschliches Gewebe übertragen — führten sie unweigerlich zu lebensbedrohlichen Zuständen wie Gasbrand, Sepsis, Herzklappen-Endokarditis", warnt der Gastroenterologe der Charité.

Als weniger kritisch schätzt er eine gezielte mikrobiologische Therapie ein, die auch unter den Begriffen Darmsanierung oder Symbioselenkung bekannt ist. Sie wird häufig Menschen mit chronischen Darmbeschwerden wie Reizdarm empfohlen. Ziel einer solchen Behandlung ist es, ein Ungleichgewicht, das im Mikrobiom entstanden ist, durch die Gabe probiotischer Bakterien wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Allerdings mache es dann keinen Sinn, "einfach irgendwo etwas einzuwerfen. Das wird nicht funktionieren. Statt leicht zu züchtenden Bakterien zu kaufen, können man ebenso Sauerkraut essen oder Bier trinken und Brot essen. Denn auch auf diese Weise nimmt man Bakterien und Hefen auf. "Da hat man mehr davon", so Swidinski.

Mikrobiologe Hauss empfiehlt beim Griff zu fertigen Zubereitungen solche mit nicht mehr als zwei Keimen. In jedem Fall sollte man dabei nicht ins Kühlregal zu "stark gezuckerten Produkten dort" greifen, sondern über die Apotheke Keime nehmen, die nach dem Arzneimittelgesetz zugelassen sind.

Genauer zu wissen, welche Mikroben in unserem Darm leben und was sie dort treiben, könnte in Zukunft zu einer besseren, personalisierten Ernährung, Frühdiagnose und Behandlung von Krankheiten führen. Das gezielte Einschleusen von Darmbakterien zum Beispiel über Probiotika könnte beispielsweise die Schleimschicht im Darm stabilisieren und so verschiedene Krankheiten verhindern. Dazu allerdings müssten noch tausende von Puzzleteilen aus der Mikrobiom-Black-Box zusammengefügt werden.

(wat)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort