Positive Auswirkungen Warum Sport bei Krebs so wichtig ist wie Medikamente
Düsseldorf · Wer die Diagnose Krebs bekommt, der möchte am liebsten erst einmal in seinem Schneckenhaus verschwinden. Kein guter Zeitpunkt also an Aktivitäten – und dann auch noch körperliche zu denken. Das sollte man aber, sagen die Experten. Denn Bewegung ist für Krebspatienten so wichtig wie ein Medikament.
Rund eine halbe Million Menschen in Deutschland erhalten jedes Jahr die Diagnose Krebs. Nach dieser niederschmetternden Nachricht setzen die Betroffenen meist alle Hoffnungen in die Suche nach der bestmöglichen Behandlungsoption. Zunächst geht es für sie ausschließlich darum, die Erkrankung durch Chemotherapie, Bestrahlung, Operation oder antihormonelle Therapien zu stoppen. Meist unerwähnt bleibt jedoch eine wichtige begleitende Behandlungsoption: die Bewegung.
Auf den ersten Blick ist das für viele ein Widerspruch. An Krebs erkrankt zu sein bedeutet körperliche wie psychische Belastungen. In diesem Zusammenhang denken Betroffene darum reflexartig eher an Ruhe und Schonung, um für die tatsächlich körperlich wie auch psychisch zehrenden Therapiephasen Reserven aufzubauen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Gerade unter den kräftezehrenden Bedingungen von Bestrahlung oder Chemotherapie stärke körperliche Aktivität die Leistungsfähigkeit des Körpers, so Michael Eichbaum, Direktor der Klinik für Gynäkologie und Gynäkologische Onkologie im Helios-Kliniken Wiesbaden auf der Website der Kliniken.
„Körperlich aktive Patienten leiden weniger unter Nebenwirkungen von Therapien“, bestätigt Joachim Wiskemann vom Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen Heidelberg (NCT). Sie haben außerdem eine höhere Chance zu überleben und bessere Aussichten auf dauerhafte Heilung, wie die Deutsche Krebsgesellschaft (DKS) betont. Beobachtungsstudien zu Brust- und Darmkrebs sowie Prostatakarzinomen zeigen, dass das Rückfallrisiko bewegungsaktiver Krebspatienten um 30 bis 40 Prozent sinkt, sagt Wiskemann. Auch für Leukämie- und andere Krebsarten wurden erste positive Zusammenhänge gezeigt.
„In den 1980er Jahren gab es erste Studien dazu“, sagt Wiskemann, Ideengeber und Gründer des Netzwerkes OnkoAktiv und Leiter der Arbeitsgruppe Onkologische Sport- und Bewegungstherapie am NCT. Inzwischen belegen mehr als 800 randomisiert kontrollierte Studien, welch durchschlagende Erfolge sich durch Bewegung in Ergänzung zur Krebstherapie erzielen lassen.
Am schnellsten wird die positive Wirkung für Krebspatienten sichtbar, wenn es um die Linderung von Nebenwirkungen der Krebstherapie geht. Chemo- und Strahlentherapie sind besser auszuhalten, wenn sich die Betroffenen regelmäßig bewegen. „Studien zeigen, dass wir Dank begleitender Bewegungstherapie höhere Dosen an Chemotherapie verabreichen können, als es ohne Bewegungstherapie möglich wäre“, sagt Joachim Wiskemann.
Ein anderes Beispiel: Antihormonelle Therapien haben unter anderem als Nebenwirkung den Verlust von Knochendichte – wie es auch bei der Osteoporose der Fall ist. Belastet man jedoch die angegriffene Knochenstruktur durch gezieltes Krafttraining, wird sie wiederaufgebaut. Neurologische Probleme wie Nervenschädigungen (Polyneuropathie) können beispielsweise durch Gleichgewichts- und Koordinationstraining verhindert und reduziert werden, betont der Heidelberger Experte.
Auch lassen sich Begleiterscheinungen wie die häufig bei Krebs auftretende Fatigue – eine belastende Erschöpfung, die sich auch durch Ruhe und Schlaf nicht bessern lässt – erfolgreich durch Bewegung behandeln. Ein Medikament dagegen gibt es hingegen nicht. Deshalb empfiehlt auch die Deutsche Fatigue-Gesellschaft Betroffenen bereits während der Krebstherapie mit körperlichem Training zu beginnen. Bewährt habe sich laut Wiskemann systematisches Kraft- und Ausdauertraining. Ähnlich positive Effekte zeigen sich bei depressiver Verstimmungen, mit denen viele Patienten im Laufe ihrer Erkrankung zu tun haben.
Warum wirkt Sport bei Krebs derart effektiv? Was weiß man über die Mechanismen dahinter? Eine Menge, aber noch nicht alles. Trotz der erfolgreichen Forschungsarbeiten in Bezug auf die Effekte von Bewegung in der Krebstherapie sind nämlich deren Mechanismen weitestgehend unbekannt. Das hat laut Einschätzung der Deutschen Krebsgesellschaft damit zu tun, dass das Wachstum von Tumoren von sehr komplexen Vorgängen bestimmt wird.
Einige dieser Faktoren: Krebszellen sind für ihr Wachstum auf Abbauprodukte von Glukose angewiesen. Bei körperlicher Aktivität werden diese vermehrt verbraucht. Bewegung regt außerdem die Durchblutung an. Die roten Blutkörperchen werden elastischer, der Blutfluss im gesamten Körper wird besser. Das erschwert Krebszellen das Überleben.
Auch der Einfluss auf Hormone die antioxidative Wirkung oder eine Verbesserung von DNA-Reparaturmechanismen sowie die Verringerung körpereigener Botenstoffe spielen vermutlich eine Rolle. Durch die Bewegung fährt der Energiehaushalt hoch. Stoffwechselprodukte werden leichter durch den Körper abtransportiert. „Dadurch werden die Abfallprodukte von Chemotherapien entgiftet“, informiert Michael Eichbaum, Direktor der Klinik für Gynäkologie und Gynäkologische Onkologie im Helios-Kliniken Wiesbaden auf der Website der Kliniken.
Wie stark die Effekte körperlicher Aktivität sind, hängt dabei unter anderem von der Intensität ab, mit der Sport getrieben wird. Hinweise darauf fanden amerikanische Wissenschaftler finden, die untersuchten, inwieweit Walking oder Joggen mit der Überlebensrate von Frauen mit Brustkrebs zusammenhängt. Aus der Studie geht hervor, dass es einen Zusammenhang zwischen der sportlichen Intensität und der Überlebensrate gibt. Die Frauen die joggten, starben seltener an Brustkrebs als die, die walkten.
Vorteile zeigen sich in der neueren Forschung zudem bei Krebspatienten, die bereits vor einer Krebsoperation mit körperlichem Training beginnen. „Wir haben wunderbare Daten über die Wirkung von Prärehabilitation bei Lungen- und Darmkrebspatienten“, sagt Wiskemann. Durch ein zwei bis vierwöchiges Training im Vorfeld der Eingriffe konnten die während und nach der Operation auftretenden Probleme um bis zu 50 Prozent gesenkt werden.
Doch obwohl monatlich neue Forschungsergebnisse das Wissen dazu komplettieren, ist das Beratungsgespräch über Chemo oder Bestrahlung mit dem Patienten verpflichtend üblich, der Hinweis auf die positive Wirkung von Bewegung jedoch in der Regel nicht.
Einer der Gründe dafür: „Mediziner und Therapeuten müssten besser geschult werden, damit sie die Patienten genauso wie über die tragenden Therapiesäulen auch über die Wirkung von Bewegung bei Krebs aufklären können“, sagt der Heidelberger Experte.
Ein damit verknüpftes Problem: Medizin ist in Deutschland leitlinienbasiert. Das heißt: Ärzte orientieren sich in ihren Entscheidungen und Therapievorschlägen an den sogenannten Leitlinien. Diese werden von medizinischen Fachgesellschaften auf Basis wissenschaftlich abgesicherten Wissens erstellt. Ihnen folgen gewissermaßen auch Krankenkassen, wenn sie die Kostenübernahme für die darin empfohlene Therapie übernehmen.
Denn Chemotherapie oder Strahlentherapie sind beispielsweise in den jeweiligen onkologischen Leitlinien aufgeführt. Sie haben auch eine Abrechnungsziffer, die Kassen übernehmen die Leistung. Bewegungstherapie steht hingegen in nur sehr wenigen Leitlinien und wenn, dann nur sehr rudimentär. „Es gibt dafür auch keine Abrechnungsziffer“, sagt Wiskemann.
In der onkologischen Praxis bedeutet dies: Wollen Ärzte Patienten Bewegungstherapie verordnen, können sie dies nur über eine „Verordnungskrücke“ tun. Leiden Patienten beispielweise an einem Lymphstau – wie das vor allem bei Brustkrebspatientinnen häufig vorkommt – kann bezüglich dieses Leidens Physiotherapie verordnet werden. „Auch Gelenkbeschwerden oder eine sich verschlechternde Osteoporose kann Anlass für eine Verordnung sein“, sagt Wiskemann. Andernfalls müssen die Patienten derzeit noch selbst in die Tasche greifen. Die Experten erwarten jedoch ein absehbares Ende dieser Misere. Derzeit wird an Leitlinien gearbeitet, die Bewegungstherapie bei Krebs als Behandlungsstandard festgelegen.
Ein großer Schritt in der Krebstherapie. Denn wenn es um Bewegung geht, ist nach Überzeugung der Experten der Patient selbst in der Situation, etwas zum positiven Verlauf beizutragen, statt hilflos und passiv den von außen empfohlenen Therapien ausgeliefert zu sein. „Es macht etwas mit den Patienten, wenn sie spüren, dass sie doch mehr Kraft und Energie haben als sie dachten und ihr Körper trotz der schweren Erkrankung leistungsfähig ist“, sagt Wiskemann.
Wichtig für ein effektives Training: Auf die Erkrankung und die jeweilige Leistungsfähigkeit angepasst trotzdem an seine eigene Leistungsgrenze zu stoßen. Wenn sich am nächsten Tag der Muskelkater bemerkbar macht, ist das ein gutes Zeichen. Den Trainingsreiz richtig zu setzen, sieht individuell verschieden aus. Für Menschen, die mithilfe eines Rollators gehen oder sehr schwach sind, könne das bereits nach einem zehnminütigen Training in Wechselphasen zwischen zweiminütigem Gehen und einminütiger Pause gegeben sein. „Ein vor der Erkrankung aktiver Freizeitsportler müsste für denselben Effekt vermutlich 45 Minuten laufen“, sagt Wiskemann. Das macht deutlich: Das Training sollte immer in Absprache mit dem behandelnden Arzt und angepasst an die körperliche Verfassung erfolgen.
Die Deutsche Krebshilfe rät allgemein zu einem Trainingsumfang von 180 Minuten in der Woche. Dieser könne zum Beispiel in 3 x 60 Minuten oder 6 x 30 Minuten gegliedert werden. Das Ganze am besten für ein Leben lang.
Wer Anleitung und Unterstützung sucht, muss derzeit noch selbst auf die Suche gehen. Neben Angeboten physiotherapeutischer Praxen oder denen von Sportvereinen gibt es private Anbieter, die den Fokus gezielt auf Bewegungsangebote bei Krebs legen. Einen ersten Überblick über zertifizierte onkologische Angebote in ganz Deutschland sowie weitere Informationen zum Thema bietet das Netzwerk "Onko Aktiv". Wer nach speziellen Bewegungsangeboten im Freien sucht, findet bei der gemeinnützige Organisation "Outdoor against Cancer" Informationen. In Zusammenarbeit mit diesem Netzwerk gibt es über den Anbieter „Gipfelkurs“ erstmals in Düsseldorf spezielle Outdoor-Trainings für Krebspatienten.