"Geißel der Menschheit" Der große Popanz Krebs

Düsseldorf · Laut einer aktuellen Studie erkrankt jeder zweite Deutsche im Laufe seines Lebens an Krebs. Eine Studie, die vor allem eines anregt: Ängste. Denn Krebs gilt uns als "König aller Krankheiten". Eine Stilisierung, die zu vielen Problemen führt. Ein Essay.

Die zehn größten Krebs-Mythen und ihre Wahrheit
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Foto: Shutterstock/ Juan Gaertner

Diesmal also Guido Westerwelle — Generalsekretär und Bundesvorsitzende der FDP, deutscher Außenminister und Vizekanzler. Aber alles ehemalig. Der 53-Jährige ist jetzt der "Krebserkrankte", der wie viele andere prominente Krebserkrankte ein Buch geschrieben hat. "Zwischen zwei Leben", heißt es und wurde in den vergangenen Tagen massiv ins Licht der Öffentlichkeit bugsiert. Gegen all das ist nichts einzuwenden. Und die Bücher über die Erfahrungen im sogenannten Kampf gegen die Krankheit sind zahlreich und höchst unterschiedlich. Der vor gut fünf Jahren verstorbene Regisseur und Aktionskünstler Christoph Schlingensief hat mit seinem Krebstagebuch eine Liebeserklärung an das Leben geschrieben: "Es geht hier nicht um Stunden und Tage und Monate, es geht hier um ein ganzes Leben. Und dieses Leben, sei es auch noch so kurz, beinhaltet den Zweifel und das Glück, das Wissen und das Unwissen." Während der Dichter Robert Gernhardt seinen Krebs als Inspirationsquelle seiner "K-Gedichte" machte, heitere und bittere Trotzgedichte gegen den "scheiß Tumor" im eigenen Leib.

Auch solche Bücher sagen etwas über die erste große Besonderheit des Krebses: Er scheint den Erkrankten zu einem Bekenntnis zu animieren. Nach mächtig beworbenen Erfahrungsbüchern zu herz- und Kreislauferkrankungen wird man jedenfalls vergeblich suchen, obgleich diese nach wie vor die häufigste Todesursache hierzulande sind. Krebs aber ist etwas Besonderes, weil wir ihn zu etwas Besonderem machen — zu einer Geißel der Menschheit, wie es manchmal heißt. Das ist ein Gegner von titanischer Gestalt; und dementsprechend martialisch sind unsere Antworten. Es war US-Präsident Richard Nixon, der nicht nur gegen Vietnam ins Feld zog, sondern 1971 auch dem Krebs tatsächlich "den Krieg erklärte". Das hört sich ziemlich heroisch an. Aber wenn es dem medizinischen Fortschritt dienlich, sollen auch solche Gesten erlaubt sein.

Dennoch wird man echte "Kriegserklärungen" an Krankheiten äußerst selten finden. Und vielleicht liegt auch das an der Besonderheit des Krebses, um den zu oft, zu laut und zu redselig ein Popanz aufgebaut wird und der auch darum als "König aller Krankheiten" gilt. Das ist zugleich der Titel eines sehr erfolgreichen Buches, mit dem der Onkologe Siddharta Mukherjee vor drei Jahren den Pulitzer-Preis für das beste Sachbuch gewann.

Der Bekenntnisdrang der Erkrankten und die Heldenpose der "Kriegsgegner" sind zwei Spots auf einen pathologischen Befund, der einen halbwegs normalen Umgang nicht möglich macht. Denn trotz dieser Öffentlichkeitsarbeit ist unser Umgang mit Krebs weder unaufgeregter, noch ist unser Verhältnis zu den Patienten entkrampfter geworden.

Zunächst ist da die komische Unaussprechlichkeit der Krankheit: Krebs hat in der Öffentlichkeit selten einen Namen. Eher entscheidet man sich zu einem komischen Synonym. Wer liest, dass diese oder jener "nach einer langen und schweren Krankheit" von uns gegangen ist, wird dahinter mit großer Treffsicherheit Krebs als Todesursache vermuten dürfen. Dahinter scheint so etwas wie Scham zu stecken sowie der kindliche Glaube, dass das, was ich nicht ausspreche, nicht existiert. Allerdings gibt es auch so etwas wie einen Namenzauber. Dinge, die nicht beim Namen genannt, erlangen besondere Kraft. Das ist schon aus der Welt der Märchen bekannt: "Oh wie gut dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß" lautet eine dieser Zauberformeln.

Diese Scheu vor der Benennung des Krebses ist Teil unserer Antiaufklärung. Sie fördert eine Stigmatisierung der Krankheit. Fast jeder, der an Krebs erkrankt ist und für längere Zeit sich der Gesellschaft entziehen muss, wird erfahren, wie schnell und wie radikal die Sozialkontakte abnehmen — besser gesagt: praktisch zum Erliegen kommen. Das hat auch damit, dass viele Menschen aus dem Umfeld des Erkrankten nicht wissen, wie sie mit der Situation und dem Betroffenen umgehen sollen. Und bevor man irgendetwas Falsches macht, macht man lieber nichts.

Der Klassiker ist dann, einen richtigen Brief zu schreiben — ein Medium, das man schon so lange nicht mehr in Anspruch nahm, dass man erst einmal bei der Post sich nach der ausreichenden Frankierung erkundigen muss. Oft lesen sich solche Schreiben dann wie liebe Vorworte zu einem Nachruf. Krebspatienten bilden oft eine anonyme Schicksalsgemeinschaft, in der es nur Tote oder Überlebende gibt.

In dieser Isolation erwächst vielleicht der Bekenntnishunger. Es kann sehr wohl erleichtern, über den Tumor und die Therapie zu reden. Bis eine gewisse Routine in den Selbsterfahrungsberichten einsetzt und nach der zehnten Wiederholung der Überdruss folgt. Es wächst dann die Sehnsucht nach dem Leben, nach seiner Alltäglichkeit mit all ihren wunderbaren Banalitäten. Die Unlust wächst enorm, vom vierten Zyklus der Chemotherapie mit ihren Nebenwirkungen zu berichten. Interessanter sind Spritpreise, Konzerte, neue Nachbarn und so weiter. Auch der Krebskranke hat ein Recht, normal behandelt und angesprochen zu werden. Stattdessen hat er mit salbungsvollen Ansprachen fertig zu werden.

Natürlich soll das keine Verharmlosung von Krebs sein, von dem man allerdings gar nicht sagen kann, was er eigentlich ist. Denn hinter dem Sammelbegriff stehen Hunderte von Krankheiten, die mittlerweile mit individuell maßgeschneiderten Therapien behandelt werden. Schon lange ist eine Krebsdiagnose kein Todesurteil mehr. Darum sind auch die Statistiken oft eine nur angstschürende Beschwörung. Dass in Deutschland alle 16 Minuten ein Mensch die Diagnose Blutkrebs bekommt, gehört ebenso zu den Menetekeln wie auch die jüngste Studie, wonach jeder vierte Einwohner Nordrhein-Westfalens an Krebs sterben wird. Aber dieses Drama ist falsch, weil es gar kein Drama ist.

Krebs hat es immer schon gegeben und wird es auch immer geben. Krebs ist in gewisser Weise unsterblich. Die Häufung als Todesursache hat vor allem zwei Gründe, die man — so komisch das klingt — als Fortschritt bezeichnen muss. Zum einen werden die Menschen deutlich älter als früher, so dass auch die Wahrscheinlichkeit, durch falsche Zellteilung an Krebs zu erkranken, enorm steigt. Das heißt zum anderen auch, dass viele andere Krankheiten schon geheilt wurden, ehe dann der Krebs todesursächlich wird.

In der Medizin hat die Entmystifizierung von Krebs schon begonnen. Denn bei manchen Erkrankungen geht es nicht mehr vorrangig um eine Heilung, sondern darum, Kontrolle über den Krebs zu bekommen. So hatte man erkennen müssen, dass etliche Patienten wahrscheinlich nicht länger, aber doch erheblich besser ohne Operationen, Chemo-und Strahlentherapien gelebt hätten. Gelegentlich wird Krebs dann als chronische Krankheit begriffen, die es nicht auszumerzen gilt, da sie entweder nicht auszumerzen ist oder ihre Bekämpfung zu furchterregende Nebenwirkungen hätte. Der Erkrankte steht dann unter regelmäßiger Kontrolle und wird gemäßigten Eingriffen ausgesetzt. Bis zum Ende seines Lebens wird der Betroffene dann an Krebs erkrankt sein; er wird aber nicht daran sterben.

Was bleibt? Der Wunsch nach etwas Normalität. Man darf mit Krebspatienten Witze machen dürfen, man darf sie besuchen und ihnen auch einiges zumuten. Man darf Bücher über Erfahrungen mit Krebs auch kritisieren. Kein Erkrankter ist ein Heiliger, kein erfolgreicher Arzt schon ein Wunderheiler. Wahrscheinlich werden wir den Krebs nie besiegen und aus der Welt schaffen.

Aber aus dem König aller Krankheiten sollten wir künftig wenigstens einen Bürger machen.

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