"Le Packing" und Psychoanalyse Umstrittene Autismus-Therapie in Frankreich

London · Autistische Kinder, nackt oder nur spärlich bekleidet, werden mit nassen, kalten Tüchern fest umwickelt. "Le packing" nennen das französische Psychologen. Dabei sollen die kleinen Patienten ihrer Vorstellung nach mit ihren Körpern "wiedervereinigt" werden, das fehlende Gefühl für ihre körperliche Ganzheit zurückerlangen. Spektakuläre Ergebnisse feiern die einen, als barbarisches Vorgehen verurteilen es die anderen.

Fünf Fragen zu Autismus
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"Le packing" ist in Frankreich im Zuge von Forschungsprojekten erlaubt. Sie habe gesehen, wie autistische Kinder nach solchen etwa einstündigen Anwendungen angefangen hätten zu sprechen, schreiben und zeichnen, sagt Marie Dominique Amy, Präsidentin des Psychotherapeuten- und Psychiater-Verbandes CIPPA.

Es gebe keine Beweise, dass die Methode funktioniere, wendet hingegen Tony Charman vom Institut für Bildung und Erziehung in London ein. Mehr noch: Es sei unvorstellbar, dass verletzliche Kinder so etwas potenziell Gefährlichem unterzogen würden, protestiert er.

Geschockte Eltern

Catherine Consel war entsetzt, als sie und ihr Mann herausfanden, dass die umstrittene Therapie jahrelang an ihrem autistischen Sohn Thomas angewendet wurde. "Wir vertrauten den Ärzten", sagt sie über die Zeit, als der heute 20-Jährige in einem Krankenhaus in Bordeaux behandelt wurde. Nur zufällig bekamen die Eltern mit, was mit ihrem Sohn damals geschah: in einer Fernsehsendung über "Le packing". Sie forderten die Krankenakten ein, in denen die Ärzte Thomas Autismus als Resultat mentaler Probleme seiner Eltern beschrieben.

"Es war sehr schwer, zu lesen, was mit ihm gemacht wurde", sagt Catherine Consel. "Sie haben alles sehr genau niedergeschrieben, wie lang es dauerte und wie er schrie und weinte."

Ruf nach individueller Förderung

Während in den meisten westlichen Ländern behavioristische Förderansätze für Kinder mit Autismus im Vordergrund stehen, haben sich in Frankreich Psychotherapie und Psychoanalyse stark durchgesetzt. 2002 legte der Verband Autism Europe mit Sitz in Brüssel Beschwerde beim Europarat ein: Frankreich verweigere autistischen Kindern die geforderte Förderung, protestierte er.

Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die in den ersten drei Lebensjahren beginnt und sich vor allem im sozialen Umgang, in Kommunikationsproblemen und in sich stets wiederholenden Handlungen bemerkbar macht. Trotz umfangreicher Forschung gibt es nach Angaben des Bundesverbandes Autismus bislang noch kein vollständiges und schlüssiges Erklärungsmodell für die Entstehungsursachen.

In der Behandlung werden vor allem Programme zur individuellen Frühförderung eingesetzt, die sich an den Eigenheiten des Patienten orientieren. "So unterschiedlich sich die ursächlichen Faktoren für das Syndrom darstellen, so vielfältig und jeweils am einzelnen Kind ausgerichtet müssen die pädagogischen und therapeutischen Ansätze sein", betont der Verband.

"Nationales Anliegen 2012"

Inzwischen hat die französische Regierung die Forschung auf dem Gebiet des Autismus und die Betreuung Betroffener zum "nationalen Anliegen 2012" erklärt. "Wir verbinden damit die Hoffnung, dass die derzeit zu Recht stark in der Diskussion stehende Behandlung Le packing ebenso wie die psychoanalytische Behandlung von Autismus dadurch stark in den Hintergrund treten werden", erklärt der Bundesverband Autismus.

"Le packing sehen wir als eine gänzlich untaugliche und unethische Methode zur Behandlung von Menschen mit Autismus an", betont der Verband. "Die ausschließliche Behandlung von Autismus mit Psychoanalyse wird von uns gleichfalls als untauglich angesehen, da sie auf veraltete Erklärungsmodelle für die Ursachen von Autismus fußt und den Fokus nicht auf das Erlernen kompensatorischer Hilfen für den Alltag lenkt." Psychotherapeutische Verfahren insbesondere für jugendliche und erwachsene Menschen mit Asperger-Syndrom oder hochfunktionalem Autismus könnten dagegen gut Bestandteil eines integrierten Behandlungskonzeptes sein.

(APD)
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