Ethikrat für Abschaffung des Inzest-Verbots Soll Sex zwischen Geschwistern legal werden?

Berlin · In Deutschland ist Sex zwischen Geschwistern gesetzlich verboten. Das könnte sich in naher Zukunft ändern, denn der Deutsche Ethikrat empfiehlt, den umstrittenen Paragrafen 173 im Strafgesetzbuch abzuschaffen.

Sechs Fakten zu Inzest
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Foto: Shutterstock/carlos castilla

Geschlechtsverkehr unter Geschwistern würde dann erlaubt sein und straffrei bleiben. Damit geht die Diskussion jetzt erst richtig los.

Man muss nicht weit fahren, um in Länder zu gelangen, in denen Sex unter Verwandten zumindest vor dem Gesetz nicht geahndet wird: In Belgien ist es erlaubt, in den Niederlanden, Luxemburg, aber auch Spanien, Portugal oder der Türkei. In Italien sind eher äußere Faktoren dafür verantwortlich, ob sich liebende Geschwister unter Strafe gestellt werden oder nicht: Ruft die gelebte Beziehung einen Skandal hervor, kann das strafrechtlich Relevanz bekommen.

In Deutschland könnte nun die existierende Rechtslage ins Wanken geraten. Dann jedenfalls, wenn der Gesetzgeber dem Vorschlag des Ethikrats folgt. Dessen 26 Mitglieder sprechen sich mehrheitlich nach intensivem Abwägen dafür aus, die Entscheidung darüber, eine sexuelle Beziehung mit Geschwistern oder Eltern zu führen zu wollen, rechtlich einzig und allein den Liebenden zu überlassen.

Urteil: Inzest ist Tabubruch und ungesund

Ihren Ausgang nimmt diese Entscheidung in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2012. Dort hatte ein Mann Beschwerde gegen eine vier Jahre zuvor getroffene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eingelegt. Demnach sollte der damals 31-jährige Leipziger ins Gefängnis, weil er Sex mit seiner Schwester hatte. Das stellt Paragraf 173 des Strafgesetzbuches mit Gefängnis bis zu zwei Jahren unter Strafe.

Das Gericht begründete sein Urteil mit dem bestehenden gesellschaftlichen Tabu gegen diese Form der Liebe. Als schwierig erachteten die Richter auch die Rollenüberschneidungen, die bei Inzestbeziehungen entstehen können. Außerdem erwähnte das Gericht die Gefahr besonderer Krankheitsgefährdung für die gezeugten Kinder.

Neben dem Gesetzes- und Tabubruch steht die argwöhnisch beäugte Liebesbeziehung zweier Menschen, die im Jahr 2000 ihren Anfang fand. Mit vier Jahren war der heute 36-jährige Leipziger adoptiert worden. Auf der Suche nach seinen Wurzeln führt es den jungen Mann schließlich zu seiner leiblichen Mutter. Im Alter von 24 Jahren steht er zum ersten Mal seiner Schwester gegenüber. Sie ist sieben Jahre jünger. Kurz darauf verstirbt die Mutter und die Geschwister sind auf sich selbst gestellt. In dieser Situation entbrennt ihre Liebe zueinander. Im Jahr 2001 kommt das erste gemeinsame Kind zur Welt. Diesem Sohn folgen drei Töchter. Zwei der Kinder sind behindert.

Diese Gesundheitsrisiken drohen durch Inzest

Unabhängig davon, ob es sich hier um schicksalhafte Fügung handelt oder nicht. Es lässt sich nicht leugnen, dass das Risiko gesundheitlicher Schädigungen bei Kindern aus Inzestbeziehungen höher ist als das bei Zeugung mit einem nichtverwandten Partner. Die Auswirkung kleiner Gendefekte potenziert sich durch die gleichen Gene der Eltern. Denn mit seinen doppelt vorhandenen Erbanlagen, werden Defekte, die rezessiv vorliegen durch das gesunde Ersatzgen wettgemacht. Bei Geschwistern ist das anders, denn sie sind zur Hälfte genetisch identisch. Bekommen sie zusammen Nachwuchs, kann es sein, dass beide das gleiche fehlerbesetzte Gen weitergeben und so beim Kind Krankheit oder Behinderung zu Tage treten.

Eine zusammenfassende Studie des australischen molekularforschers Michael Black aus dem Jahr 2010 zeigt, dass 16 Prozent der untersuchten Inzestkinder Fehlbildungen aufwiesen oder am plötzlichen Kindstod verstarben. 11,7 Prozent unter einer schweren Intelligenzminderung litten und 14,6 Prozent andere Störungen zeigten. Lediglich 46 Prozent der Kinder aus Inzestverhältnissen zeigten keinen auffälligen Befund.

Zeugen Cousin und Cousine im Erwachsenenalter beispielsweise ein Kind, ist das Risiko für den Nachwuchs an Geburtsfehlern wie Herz- oder Lungenerkrankungen zu leiden, doppelt so hoch im Vergleich zu anderen Zeugungen. Das belegte eine britische Studie auf Basis der Daten von 11.000 Geburten in Bradford. Solche Sexualbeziehungen bleiben auch in Deutschland ungeahndet. Dennoch sind sie gesellschaftlich verpönt.

Homosexualität und Ehebruch waren auch Tabus

Der Ethikrat hält "eine allgemeine Verurteilung sämtlicher inzestuöser Handlungen allein mit Gen-Argumenten schon hingegen allein aus logischen Gründen" für nicht haltbar. Da insgesamt Paaren, die genetisch vorbelastet sind und diese Last an ihre Kinder weitergeben könnten, kein Zeugungsverbot ausgesprochen werde, dürfe das auch im Fall einer Schädigung durch Inzest nicht anders entschieden werden, halten die Ethikexperten fest.

Ausgehend vom Leipziger Fall hat der Deutsche Ethikrat zahlreiche Betroffene gehört, die aus Liebe und nicht aus familiären und religiösen Verstrickungen das getan haben, was in der Gesellschaft als Tabu besteht. Es wird als ebenso unzulässig angesehen, wie vielleicht bis in die 1960er hinein der Ehebruch. Während er als Unzucht früher unter Strafe stand, obliegt es heute der Moral der Betroffenen darüber zu urteilen. Auch einvernehmliche homosexuelle Handlungen stellen heute keinen Tabubruch mehr dar. Früher waren sie strafbar.

Kann sich die Tabuisierung der Blutsliebe ähnlich wandeln? Die Ethikexperten halten Geschwisterehen in westlichen Gesellschaften für selten und betonen in ihrer Stellungnahme die belastende Situation angesichts der Strafandrohung. Es sind durchweg Schilderungen von Halbgeschwistern, die sich erst im Erwachsenenalter kennengelernt haben. Eine junge Frau berichtet: "Ich war 18 Jahre alt, als ich erfuhr, dass ich noch einen Halbbruder habe. Immer wieder diese Gedanken, es darf nicht sein. Wir dürfen es nicht." Betroffene berichten anonym über die Sorge vor einem Jobverlust oder soziale und familiäre Notlagen: "Jetzt bin ich schwanger. Und er hat Panik. Panik, dass er hierfür angeklagt wird. Panik, dass uns etwas zustoßen könnte, oder dass, wenn er ins Gefängnis muss, seine Familie nicht mehr versorgt ist."

Ethikrat: Gesetz kann die Moral nicht schützen

Der Ethikrat drängt darum auf ganzer Linie auf einen anderen Umgang mit dem Problem. Mehrheitlich spricht er die Auffassung aus, dass das Strafrecht nicht das geeignete Mittel sei, ein gesellschaftliches Tabu zu bewahren. Das Gesetz habe nicht die Aufgabe, moralhütend Standards oder Grenzen für den Geschlechtsverkehr mündiger Bürger durchzusetzen. Seine Aufgabe liege darin, den Einzelnen vor Schädigungen und groben Belästigungen und die Sozialordnung der Gemeinschaft vor Störungen zu schützen.

"Im Fall einvernehmlichen Inzests unter volljährigen Geschwistern können weder die Befürchtung negativer Folgen für die Familie noch die Möglichkeit der Geburt von Kindern aus solchen Inzestbeziehungen ein strafrechtliches Verbot dieser Beziehungen rechtfertigen. Das Grundrecht der erwachsenen Geschwister auf sexuelle Selbstbestimmung ist in diesen Fällen stärker zu gewichten als das abstrakte Schutzgut der Familie", so lautet die Argumentation des beratenden Gremiums.

Rund um das Leipziger Urteil positionierten sich schon im Jahr 2012 die ersten Politiker. Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele wollte derzeit schon den Inzest-Paragrafen "als Relikt aus alten Zeiten abschaffen", sagte er damals dem Nachrichtensender N24. Ganz anderer Meinung zeigte sich der bayerische Innenminister Joachim Hermann (CSU). Er rügte, sexuelle Freiheit zu fordern, sei lediglich eine vermeintlich tolerante Haltung. In Wahrheit führe sie in fast allen Fällen auf die Abhängigkeit eines Partners zurück. Das Parlament wird die Qual der Entscheidung in dieser kontrovers diskutierten Thematik haben.

(wat)
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