Zukunft der Hirnimplantologie Sind Menschen bald durch Hirnchips fernsteuerbar?

Hamburg · Es mutet an wie aus Frankensteins Laboren: In den USA forscht man an Hirnimplantaten, die Hirnverletzten zurück zu verlorenem Wissen verhelfen sollen. Ferngesteuerte Mäuse brachte die Wissenschaft schon hervor, aber auch Hirnelektronik, mit denen Ganzkörpergelähmte mittels Gedanken Roboter steuern können. So werden Gehirnchips die Gesundheit und Menschheit verändern.

Neuroimplantate – Das ist möglich
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Neuroimplantate – Das ist möglich

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Ein winziger Chip soll im Gehirn Menschen das wiederbringen, was ihnen eine Verletzung in der lebenssteuernden Denkzentrale geraubt hat: Ihre Erinnerung. In den USA gehen neue Forschungsprojekte mit Hirnimplantaten an den Start, die mit 40 Millionen Dollar gefördert werden.

Soldaten, die durch traumatische Kriegserfahrungen unter Gedächtnisverlusten leiden, will man mit implantierbaren Therapiegeräten helfen und Lücken im Langzeitspeicher des Gehirns überbrücken, damit sie auf einfaches Faktenwissen und Basiswissen zugreifen können, so die Informationen der Forschungsbehörde des US-Verteidigungsministeriums (DARPA) dazu. Kritiker fürchten, dass solche Elektroden im Hirn auch zum Einspeisen oder Auslesen von Gedächtnisinhalten aus der Ferne missbraucht werden könnten und Menschen auf diese Weise fernsteuerbar würden.

Informationen im Hirn löschen

Prof. Reinhard Merkel, Mitglied des Deutschen Ethikrates, denkt anders: "Ein solches Forschungsprojekt ist wohl vor allem sinnvoll, wenn man, sozusagen umgekehrt, Strategien zur Löschung von traumatischer Erninnerung im Hirn sucht." Der Strafrechtler und Rechtsphilosoph weiß genau, dass eine solche Vision viele Menschen verschreckt. Die nämlich, die sich davor fürchten, dass Menschen durch Neuroimplantate von außen gehackt werden können. Solche, die ablehnen, ihr Gehirn freiwillig mit einem Computer koppeln zu lassen, um ihre Möglichkeiten zu erweitern.

Aber Merkel, der sich mit Recht und Ethik in den Neurowissenschaften bestens auskennt, hat seine Gründe dafür: "Stellen Sie sich eine Frau vor, die von mehreren Tätern vergewaltigt wurde und die dadurch lebenslang traumatisiert ist, oder einen Kindersoldaten, der mit zwölf an furchtbaren Massakern beteiligt war und irgendwann damit nicht mehr klar kommt. Für solche Menschen ist es therapeutisch wichtig, Erinnerung löschen zu können."

Für das Forschungsprogramm "Restoring Active Memory" (RAM) erhalten zwei Universitäten — die Universität von Los Angeles und die Pennsylvania, sowie ein weiteres Institut mit der Entwicklung und Testung drahtloser implantierbarer Neuroprothesen insgesamt 40 Millionen Dollar (29,4 Millionen Euro). Erste Tests sollen an Epilepsie-Patienten mit Gedächtnisverlust durchgeführt werden, denen aus therapeutischen Gründen bereits Elektroden ins Hirn eingesetzt wurden.

Erster Mensch mit Mikrochip im Kopf

Geforscht auf diesem Gebiet an Menschen schon lange. Matthew Nagle heißt die erste Versuchsperson, die sich den Kopf aufbohren ließ, um sich ein Neuroimplantat ins lebende Gewebe setzen zu lassen. Nach einem Handgemenge ist der damals 25-Jährige Highschool-Football-Star aus Massachusetts vom Hals abwärts gelähmt. Irgendjemand hatte ihm eine 20 Zentimeter lange Messerklinge in die Halswirbelsäule getrieben. Nun sitzt er bewegungsunfähig im Rollstuhl und wird künstlich beatmet. Wenn er vom Bett in den Rollstuhl möchte, ist er auf fremde Hilfe angewiesen. Wenn er trinken möchte, braucht er andere Menschen.

Sein Leben ist fremdbestimmt, als Forscher der Firma Cyberkinetics auf ihn zukommen und ihm ein Experiment vorschlagen. Sie wollen ihm 100 haarfeine Elektroden aus Silikon in den Teil der Großhirnrinde pflanzen, die die motorischen Fähigkeiten von Armen und Beinen koordiniert, den Motorcortex. Bislang hat das Unternehmen die Technologie, die sich Braingate — Tor zum Gehirn — nennt, ihr System an Affen erforscht und verfeinert. So lange, bis die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA ihre Zustimmung für einen Menschenversuch gibt. Das war im Frühjahr 2004.

Matthew Nage gibt die Zustimmung zu diesem Versuch, um herauszufinden, ob ein Mensch ein Computer-Interface im Gehirn allein durch Gedanken in der Lage ist zu steuern. Er ist es. Der Gelähmte kann einen Computer bedienen und E-Mails verschicken oder einen Roboterarm steuern, damit er trinken kann. — Allein mit seinen Gedanken. Doch die Maschinerie drumherum ist schwerfällig und er ist dabei auf die Assistenz anderer angewiesen. Seit diesen ersten Experimenten wurde weiter geforscht und die Technologie verbessert.

Tiere fernsteuern über Neuroimplantate

Ratten kann die Wissenschaft über Elektroden in ihrem Gehirn steuern. Sie empfangen dort Signale, die sie eigentlich als Impulse von ihren Barthaaren bekommen. In diesem Fall aber steuern Forscher sie von außen direkt ins Hirn und bewegen so die Tiere wohin sie wollen. Was bei Ratten begann, ist längst angekommen im Menschenhirn und wird dort eingesetzt, um bei verschiedensten Erkrankungen zu helfen: Ob als Hirnstimulatoren bei Parkinson-Patienten, um das Muskelzittern zu kontrollieren oder bei Epileptikern, um beginnende Anfälle zu erfassen und durch winzige elektrische Schocks zu unterdrücken. Möglich ist das in den USA durch die Zulassung durch die FDA, solche Geräte an Menschen zu testen.

Helfen, so teilt nun zum aktuellen Forschungsauftrag in den USA, der Gedächtnisforscher Michael Kahana von der Universität Pennsylvania mit, könne man mit dem neu erlangten Wissen auch Alzheimer-Patienten. Das wäre ein Nebenprodukt der Forschung rund um die Manipulierbarkeit von menschlichen Gehirnen. Denn Ziel des amerikanischen Programms ist es, "viele neue Aspekte des menschlichen Gedächtnisses zu offenbaren und mehr über das Gehirn zu lernen in einer Weise, die zuvor nicht möglich war", so lautet es aus der Forschungsbehörde des US-Verteidigungsministeriums.

Minmiprozessoren bald im Schädel denkbar

"Ich hoffe, dass Parkinson in 20 Jahren über Stammzellenimplantate therapierbar ist. Wir werden dann hoffentlich über wirksame und hinreichend sichere Bio-Implantate dieser neuen Art verfügen, um nicht nur die Symptome, sondern die Krankheit selbst kausal behandeln zu können", sagt Prof. Reinhard Merkel. Innovationen wie Google-Glasses werden wirken wie Erinnerungen aus der Steinzeit, Brain-Computer-Interfaces gehören in der existierenden Form zum alten Eisen. Damit meint er die Koppelung von Gehirn und Computer, bei denen Mini-Prozessoren im Brustkorb oder Schädel sitzen und den Menschen so — wie der Wissenschaftler es ausdrückt "zu verbessern". Dass solche Vorhaben funktionieren, sei längst bewiesen.

Für den Rechtsethiker ist es keine Frage, dass es kein grundlegend eigenes ethisches Problem aufwürfe, etwa Chips mit Handyfunktionen direkt in den Körper zu implantieren und so für einen direkten Zugriff seitens des Gehirns verfügbar zu machen, sofern das technisch hinreichend sicher geschehen kann. "Nehmen Sie den Top-Manager, den man sich ohne das Handy in der Westentasche nicht vorstellen kann. Ohne sein Smartphone wäre er kognitiv geradezu behindert." Mit dieser Auffassung provoziert er diejenigen, die eine solche Entwicklung als Fremdbestimmung für unvorstellbar halten. "Ich werde im Ethikrat versuchen, eine Diskussion über die Probleme der sich entwickelnden neurotechnischen Möglichkeiten zur Verbesserung des Menschen anzuregen", sagt Merkel. Diese Forschung gänzlich zu unterlassen sei ethisch inakzeptabel.

Zu wenig Kontrolle

Andererseits berge jede Fortentwicklung auch ein gefährliches Missbrauchspotential, das unbedingt kontrolliert werden müsse. Doch damit ist es so eine Sache. Im Internet schon derzeit leicht für Jedermann zu bekommen sind relativ simple Geräte zur elektromagnetischen Hirnstimulation. "Das wird noch nicht von den Arzneimittelgesetzen kontrolliert und dafür ist es schon höchste Zeit", moniert der Experte.

Im Guten eingesetzt können solche Technologien segensreiche Entwicklungen für Menschen bringen, die gesundheitlich schwer gezeichnet sind: durch Hirnerkrankungen oder psychiatrische Krankheiten wie Depressionen. Auch dort kommt die Brain-Stimulation heute bereits zum Einsatz. Dabei ist jetzt bereits absehbar, dass sie durch neue Verfahren abgelöst werden wird. Stimulationen mit Licht werden an ihre Stelle treten. Dazu werden ähnlich wie bei Impfungen Gene über Retroviren beispielsweise aus Algen eingeschleust. Sie sorgen dann dafür, dass genau definierte Neuronen auf bestimmtes Licht reagieren. Über feinste Glasfaserkabel im Schädel sind so bestimmte Hirnareale steuerbar. Optogenetik nennt sich das neue Fachgebiet, dem Bahnbrechendes vorhergesagt wird.

Optogenetik: Über Lichtstrahlen Maus dirigieren

Schon im Jahr 2008 gelang es Forschern der Stanford-University eine Maus auf diese Art so zu präparieren, dass sie von außen steuerbar wurde. "Japanische Forscher haben das auch an Primaten gezeigt. Es hat gewiss etwas Gespenstisches, und uns ist allen klar, dass man das nicht deshalb entwickelt, um Tiere in ihrer Richtung steuern zu können", sagt der unaufgeregte Rechtsethiker.

Diese Sorge beschäftigte auch unter der der Fragestellung "Stimulus oder Steuerung?" hierzulande den Ethikrat. Da sich die Arbeit mit Neuroimplantaten verglichen mit ihrer Dimension und ihren Möglichkeiten noch in der Anfangsphase befindet, ist derzeit noch unklar, wie weit Minicomputer in unserem Körper unser Erkennen, Wahrnehmen und Handeln kontrollieren oder sogar manipulieren könnten. "Auch für Implantate, die nicht in das Gehirn eingepflanzt werden, sondern als Chips unter der Haut getragen werden - zum Beispiel am Arm -, stellen sich in Abhängigkeit von den Anwendungszielen vielfältige ethische Fragen", beleuchtet Prof. Eve-Marie Engels, Bioethikerin von der Universität Tübingen.

Nebenwirkungen von Hirnimplantaten

Auch im Dunkeln ist, wie stark zum Beispiel der Einsatz von Neuroimplantaten zu psychischen Veränderungen führen kann. Denn aus Eingriffen ist bekannt, dass "durch die elektronische Hochfrequenz-Stimulation Nebenwirkungen auftreten können", so informiert das Universitätsklinikum Freiburg. Bei neurochirurgischen Eingriffen bei Parkinson-Patienten könne es auch zu psychiatrischen Nebenwirkungen wie Apathie, depressiver Verstimmung oder submanischen Zuständen kommen. Dennoch überwiegt für die meisten dieser Patienten der Vorteil, wieder gehen zu können oder sich freier bewegen zu können.

Zu leicht täuschen die Erfolge darüber hinweg, dass wir eigentlich zu wenig darüber wissen, wie das menschliche Gehirn funktioniert. Wir sind weit entfernt von einem profunden Verständnis der unvorstellbaren Komplexität des Gehirns. "Neuroexperten sind sich sicher, dass die Zahl möglicher Zustände eines menschlichen Gehirns die Gesamtzahl aller Atome im Universum übertreffe", sagt Prof. Reinhard Merkel.

Mensch als Datenüberträger

Kevin Warwick, Kybernetik Professor an der britischen University of Reading forscht auf seine Weise an den Möglichkeiten, die sich aus der Verschmelzung dieser gigantischen menschlichen Basis mit der eines Computers erzielen lässt: Er ließ als erster Mensch sein Nervensystem mit einem handlungsfähigen Computer verbinden. Sein Ziel: Als erster Cyborg herauszufinden, wie man Maschinenintelligenz nutzen kann, um Menschen zu aktualisieren. Auch Microsoft hat da nicht geschlafen. Die Firma hat unter der Nummer 6,754,472 ein Patent angemeldet, das den menschlichen Körper als Medium für Datenübertragung zu High-End-Geräten wie Smartphones, PDA, medizinischen Geräten und RFID.

(wat)
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