Superinfektion Erst Grippe, dann Lungenentzündung

Düsseldorf · Bei einer Superinfektion schlägt eine Erkrankung der oberen Atemwege wie Grippe in eine andere und gefährlichere um. Bei Ministerpräsidentin Hannelore Kraft könnte das eingetreten sein - erst litt sie an einer Bronchitis, jetzt liegt sie mit einer Lungenentzündung im Bett.

Grippewelle 2016: Von der Grippe zur Lungenentzündung
Foto: lungeninformationsdienst.de, Helmholtz-Zentrum, DZL

Als dieser Tage die Meldung durchs Land ging, dass Ministerpräsidentin Hannelore Kraft an einer Lungenentzündung erkrankt sei, musste man sich ernstlich Gedanken machen. Erstens, weil das eine schwere Krankheit ist, zweitens, weil Patienten meistens ungeduldig sind und das Bett zu früh verlassen. Aber auch Kranke, die alles richtig machen, müssen sich der Tatsache stellen, dass die Pneumonie nach Durchfallerkrankungen die zweithäufigste Infektionskrankheit weltweit ist und nicht nur die Lunge schädigt. Sie kann sich ausbreiten und zu einer Sepsis führen, bei der mehrere Organe von der Entzündung betroffen sind und ausfallen können.

In Deutschland kommt es im Jahr zu etwa 500.000 Neuinfektionen. Dass 30 Prozent davon im Krankenhaus, zum Teil auf der Intensivstation behandelt werden müssen, spricht Bände. 20.000 Menschen sterben in Deutschland jährlich an ihr. Manchmal zieht sich ein Kranker die Lungenentzündung auch erst in der Klinik zu, wo er - mit ohnedies geschwächtem Immunsystem - künstlich beatmet werden muss. Hierbei lassen sich Pneumonien zuweilen kaum vermeiden.

Ein Knistern beim Abhorchen

Eine Lungenentzündung erkennt sogar manch erfahrener Arzt nicht immer auf den ersten Blick. Sie kann sich nämlich maskieren und in milder Form auftreten; man nennt sie dann "atypisch". Im typischen Verlauf entzünden sich die Lungenbläschen; rasch kommt es zu hohem Fieber, Husten, eitrigem Auswurf, Schmerzen beim Atmen, schnellem Puls, Schüttelfrost; beim Abhorchen stellt der Arzt ein Knistern fest - und im Blutbild sind die Entzündungsmarker erhöht, ebenso der Wert der weißen Blutkörperchen (Leukozyten).

Behandelt wird die Pneumonie mit strikter Bettruhe, schleimlösenden Mitteln und mit Antibiotika - sofern wirklich Bakterien der Auslöser sind. Denn auch Viren und Pilze können Lungenentzündungen auslösen, dann sind es in der Regel andersartige Verläufe, die sich nicht in den Lungenbläschen, sondern im umgebenden Gewebe abspielen. Manchmal ist es unumgänglich, dass der spezielle Erreger genau nachgewiesen wird, damit der Kranke nicht zu lange ein Breitband-Antibiotikum schlucken muss. Manchmal ist es indes gar kein Keim, der zur Lungenentzündung führt. Bei der Aspirationspneumonie gelangt beispielsweise erbrochener Mageninhalt oder falsch geschluckte Nahrung über die Luftröhre in die Lunge und kann dort schwere Entzündungsreaktionen auslösen.

Die moderne Medizin hat allerdings eine möglicherweise passgenaue Erklärung, warum viele Menschen erst eine Grippe, eine Bronchitis oder eine schwere Erkältung bekommen und sich im Anschluss eine Lungenentzündung einfangen. Das hat offenbar etwas mit der Ökonomie zu tun, mit welcher unser Immunsystem arbeitet.

Meist sind es ja nicht die Influenza-Viren selbst, die vor allem für Risikogruppen - Kleinkinder, Ältere und Menschen mit eingeschränkter Immunabwehr - gefährlich sind. In vielen Fällen ist es die gefürchtete Superinfektion durch Pneumokokken und andere Bakterien, die schwere Pneumonien auslösen. Wie kommt es dazu? Das Immunsystem beschäftigt sich erst einmal mit einem einzigen Erreger; in diesem Kampf ist es logistisch sehr erfahren. Bei einer Grippe attackiert es also Viren. Das schafft aber einen Windschatten für den Vormarsch anderer Erreger.

Österreichische Molekularbiologen haben unlängst herausgefunden, warum eine Virusinfektion die Abwehrkraft gegen Bakterien schwächt. Studien konnten zeigen, dass schwere Krankheitsverläufe der viralen Grippe, wozu die Lungenentzündung zu zählen ist, meistens nicht vom Virus selbst verursacht werden. Die Pneumonie entsteht tatsächlich vielmehr durch die Immunantwort des Körpers, die ihn anfälliger für Bakterien macht.

Es hat den Anschein, so die Wiener Forscher, dass sich der menschliche Körper immer nur mit einem Gegner beschäftigen kann: entweder mit einem Virus oder mit einem Bakterium. Studienleiter Andreas Bergthaler erklärt das so: "Wir entdeckten ein Abwehrsystem in den Zellen, das darauf abzielt, unnötige und überschießende Entzündungsreaktionen bei einer Virusinfektion zu verhindern." Auslöser dieses Ablaufs ist ein Enzym namens Interferon, das bei der Virenabwehr eine sehr wichtige Rolle spielt.

Das läuft so ab: In dem Moment, da ein Virus in den Körper eindringt, aktiviert Interferon sofort etliche Gene mit dem Auftrag, den Befall des Organismus zu regulieren. Ein Gen bildet dabei ein Enzym (es hört auf das Kürzel Setdb2), das gewissermaßen als Stoßdämpfer fungiert. Es soll den Strom der Abwehrzellen im Körper kanalisieren und auch ein wenig stauen. Das ist wichtig, weil überschießende Reaktionen des Immunsystems in den Organen erheblichen Schaden anrichten und gefürchtete Autoimmunreaktionen auslösen können. "Evolutionär gesehen scheint der Körper also abzuwägen, was er eher riskieren kann", sagt Bergthaler. Bei der Pneumonie als Superinfektion hat er sich gegen die chronische Autoimmunerkrankung entschieden, die Organe in Mitleidenschaft ziehen kann, und nimmt die Attacke von Bakterien in Kauf. Dringen diese also in eine Lunge ein, die schon mit einer Grippe zu tun hat, werden Botenstoffe, die Immunzellen zur Bekämpfung anlocken sollten, gedämpft - und die Pneumonie kann um sich greifen.

Hilft die Blockade eines Enzyms? Das erklärt auch, warum Grippe-Patienten nicht zu schnell das Bett verlassen sollten. Der Feind im Rücken wartet schon - und der Körper kann nicht mehrere Fights gleichzeitig führen. Deshalb könnte es eine Therapiemöglichkeit der Zukunft sein, jenes Enzym Setdb2 in gewissen Situationen zu blockieren.

Hannelore Kraft werde auch in den kommenden Tagen keine Termine wahrnehmen können, teilte gestern eine Sprecherin mit. Wichtige Zusatzinformation der Staatskanzlei: Zuvor habe sie an einer Bronchitis gelitten (die meist von Viren ausgelöst wird). Ihre aktuelle Pneumonie könnte also der klassische Fall einer Superinfektion sein.

(w.g.)
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