Ethik in der Medizin Übertherapie am Lebensende

Essen · In Essen ringt eine Familie darum, dass ihr Vater in Würde sterben kann – so wie es in seiner Patientenverfügung steht. Nach einer Not-OP wurde er mit allen Mitteln der Intensivmedizin behandelt. Kein Einzelfall.

  Intensivmedizinische Behandlung eines Patienten. (Archiv)

Intensivmedizinische Behandlung eines Patienten. (Archiv)

Foto: dpa/Patrick Seeger

Genau das hat Hans S. niemals erleben wollen: Der Industriemeister (81) aus Essen hat seinen Kindern immer gesagt, dass er sein Lebensende nicht umgeben von medizinischen Apparaten auf einer Intensivstation erleben möchte. Darum hat er auch eine entsprechende Patientenverfügung verfasst, darin zum Beispiel künstliche Beatmung und Ernährung ausgeschlossen. Anfang Dezember landete er als Notfall im Krankenhaus, seine Hauptschlagader war gerissen, seine Beine wurden nicht mehr mit Blut versorgt. In dieser kritischen Situation willigte er in eine riskante Operation ein. Ihm wurde unter anderem eine künstliche Hauptschlagader von der Achsel bis in die Beine gelegt. Es kam zu gravierenden Komplikationen, Lungen-, Nieren-, Immunversagen. Als sein Sohn Peter S. (56) den Vater nach der OP wiedersah, hing dieser an zahlreichen Maschinen, wurde künstlich beatmet, ernährt, musste an die Dialyse – und konnte sich nicht mehr dazu äußern, wie es mit ihm weitergehen soll.

„Es war genau das eingetreten, was mein Vater nie gewollt hat“, sagt Peter S. Doch auf die Bitten der Angehörigen, das Leben von Hans S. nicht weiter durch Apparatemedizin zu verlängern, ging das Elisabeth-Krankenhaus Essen nicht ein. Mehr als 20 Tage lang wurde die Intensivbehandlung des Patienten fortgesetzt, bis die Angehörigen Strafanzeige wegen des Verdachts auf Körperverletzung gegen das Krankenhaus stellten und immerhin die Verlegung ihres Vaters in ein anderes Krankenhaus erreichten. Dort wird der Patient nun palliativmedizinisch begleitet. „Wir möchten, dass mein Vater in Ruhe und Würde sterben kann, so wie es sein Wunsch war“, sagt Peter S. „Für die Familie ist es eine schreckliche Belastung, dass wir so um dieses Recht ringen müssen, statt in Ruhe Abschied nehmen zu können.“

Das Elisabeth-Krankenhaus Essen begründet sein Vorgehen mit der Einwilligung des Patienten in die Operation. Auf Anfrage erklärt Sprecherin Dorothee Renzel, der Patient sei über die Risiken der Operation aufgeklärt worden und habe schriftlich eingewilligt. Damit habe er auch in die Nachbehandlung eingewilligt. Diesem Verständnis stehe auch die eingereichte Patientenverfügung nicht entgegen. Darauf habe sich auch ein Essener Amtsgericht berufen, das einen Antrag der Familie von Hans S., die Dialysebehandlung des Patienten nicht fortzusetzen, abgelehnt hatte. Auch eine Ethikkommission, die das Krankenhaus wie vorgeschrieben hinzuzog, berief sich auf die schriftliche Einwilligung von Hans S. und entschied gegen die Familie. Angehört wurden die Angehörigen nicht. Das Anliegen der Familie sei dem Gremium aus Unterlagen bekannt gewesen, sagt das Krankenhaus.

Obwohl die meisten Menschen in Befragungen angeben, dass sie am liebsten daheim in Ruhe ihr Leben beschließen möchten, sterben in Deutschland immer mehr alte Menschen an Apparaten. Laut einer Studie, für die Krankenhausstatistiken von 2007 und 2015 ausgewertet wurden, stieg die Zahl von Menschen über 65 Jahren, die vor ihrem Tod noch auf einer Intensivstation behandelt wurden, dreimal schneller als die Zahl von Krankenhaustodesfällen insgesamt. Bei Patienten über 85 Jahren war der Anstieg etwa doppelt so hoch.

Nun könnte man das für ein Zeichen intensiverer Versorgung oder Ergebnis der demografischen Entwicklung in Deutschland halten. Doch selbst wenn man die Altersentwicklung einrechnet, besteht dieselbe Tendenz. Außerdem stieg auch die Zahl von Patienten, die von der Intensivstation in eine Pflegeeinrichtung eingewiesen wurden, nämlich um acht Prozent, während die Zahl der Überweisungen von der Intensivstation zur Reha um 3,5 Prozent abnahm. In vielen Fällen ging es auf der Intensivstation also nicht um die Stabilisierung eines Patienten mit Heilungsaussichten, bei der auch schwerwiegende Eingriffe wie der Einsatz einer künstlichen Hauptschlagader sinnvoll sein können, sondern um die Versorgung am Lebensende.

Menschen wollen nicht an Apparaten sterben, immer häufiger kommt es aber so. Das wirft die Frage auf, ob wirtschaftliche Interessen eine Rolle spielen. Insbesondere bei Menschen, die am Lebensende künstlich beatmet werden müssen, gibt es hohe Fallpauschalen. Für die ambulante Versorgung in Wohngemeinschaften etwa zahlen die Krankenkassen 15.600 Euro im Monat. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat gerade einen überarbeiteten Gesetzentwurf vorgelegt, um finanzielle Anreize für diesen Bereich der Intensivpflege zurückzufahren. Laut der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie könnten zwei Drittel der Beatmungspatienten entwöhnt werden. Dafür will Spahn finanzielle Anreize schaffen. Zugleich soll den Anbietern ambulanter Intensivpflege genauer auf die Finger geschaut werden.

Die Krankenkasse AOK hält das für richtig. „Allerdings müssen die Krankenhäuser sich mehr anstrengen, Patienten von der Beatmungsmaschine zu entwöhnen“, sagt Jürgen Malzahn, Leiter der stationären Versorgung im AOK-Bundesverband. „Dazu sollten Kliniken verpflichtende Meldungen abgeben, aus welchen Gründen Patienten über zehn Tage hinaus beatmet werden und wie die weitere Therapie geplant ist.“ Doch auch jenseits der Versorgung von Beatmungspatienten könnten hohe Sätze für die Intensivpflege dazu führen, dass Patienten am Lebensende übertherapiert werden.

Fakt ist, dass die Zahl der Intensiv­betten in deutschen Krankenhäusern zwischen 2007 und 2015 um 15 Prozent gestiegen ist, während die Zahl der Klinikbetten insgesamt um sieben Prozent sank. Auch im europäischen Vergleich fällt auf, dass deutsche Krankenhäuser mehr als doppelt so viele Intensiv­betten vorhalten wie im europäischen Durchschnitt. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft hält diese Zahlen nicht für aussagekräftig, da wegen des Personalmangels in Deutschland nicht alle Intensivbetten genutzt würden. Auch seien europäische Länder aufgrund der unterschiedlichen Gesundheitssysteme nicht vergleichbar.

„Angebot schafft Nachfrage, gibt es leere Intensivbetten, legt man da einen Sterbenden hinein“, sagt der Palliativmediziner Matthias Thöns, Autor des Buchs „Patient ohne Verfügung“ und Mitgründer von „Zweitmeinung-Intensiv.de“. Zu dieser Initiative haben sich Fachärzte, Intensivpflegekräfte und Juristen zusammengeschlossen, um Patienten zu beraten und Übertherapie zu verhindern. Auch die Familie von Hans S. wandte sich an das Team. Thöns plädiert dafür, dass viel mehr Intensivpatienten auch in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen von Palliativteams mitbetreut werden. Bisher geschieht das in Deutschland nur bei 0,7 Prozent der Intensivpatienten, in Kanada etwa liegt der Schlüssel bei 50 Prozent.

„Der Mensch muss wieder an erster Stelle stehen“, sagt Thöns, „gerade am Lebensende brauchen Patienten und ihre Angehörigen Behutsamkeit und Beistand statt aggressiver Therapien, die nichts mehr bewirken.“ Daher rät Thöns dazu, eine Patientenverfügung auszufüllen und eine unabhängige ärztliche Zweitmeinung einzuholen. Bisher haben nur etwa 13 Prozent der Menschen, die auf Intensivstationen sterben, eine Patientenverfügung, noch weniger wissen von ihrem unabhängigen Beratungsrecht.

Intensivbehandlung am Lebensende sei oft mit großem Leid verbunden. „Dabei lehnen die meisten Menschen Eingriffe mit hohem Risiko bleibender Schwerbehinderung ab“, sagt Thöns. „Sie wollen vor allem möglichst schmerzfrei sterben.“ Darum seien Menschen am Lebensende in Hospizen oder mit Unterstützung eines ambulanten Palliativteams daheim besser aufgehoben als auf Intensivstationen.

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