ADS-Medikament bald für Erwachsene? Angst vor Hirn-Doping mit Ritalin

(RP). Kaum eine Medikation ist so umstritten wie die beim Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS). Schon bald könnten die konzentrationsfördernden und leistungssteigernden Mittel auch für Erwachsene zugelassen werden. Kritiker befürchten eine Missbrauchswelle bei Studenten und Managern.

 Thomas Dereser hat vor fünf Jahren in Duisburg eine Selbsthilfegruppe gegründet.

Thomas Dereser hat vor fünf Jahren in Duisburg eine Selbsthilfegruppe gegründet.

Foto: RP, Werner Gabriel

Thomas Dereser zündet sich eine Zigarette an. Die Zweite an diesem Tag. Es ist 13 Uhr, der Sachbearbeiter in der Verwaltung eines Duisburger Kaufhauses hat Mittagspause. "Früher hatte ich jetzt schon das erste Päckchen geraucht", sagt er.

"Heute rauche ich nicht mal eine Packung am Tag." Das, sagt der 45-Jährige, liegt am Ritalin. Seit sechs Jahren nimmt der Duisburger das Medikament. Seit sein Arzt bei ihm die Diagnose ADHS gestellt hat. Für Dereser war es ein Schock — und eine Erlösung. "39 Jahre bin ich mit meinem Leben nicht klargekommen", sagt er. "Jetzt wusste ich endlich, warum."

Das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS), auch Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), ist eine Diagnose, die zumeist Kinder betrifft. ADS-Patienten sind unberechenbar impulsiv und können sich kaum konzentrieren. Sie schreiben in der Schule schlechte Noten, obwohl sie in IQ-Tests überdurchschnittlich abschneiden, sind unruhig, ecken oft an, werden schnell aggressiv.

Anders als lange angenommen verschwinden die Symptome im Erwachsenenalter nicht von selbst. "30 bis 50 Prozent der Patienten sind auch im Alter von 20 bis 30 Jahren durch die Krankheit massiv in ihrem Alltag beeinträchtigt", sagt Professor Manfred Döpfner, Psychologe an der Uni Köln. Nur die wenigsten erhalten eine Behandlung mit Medikamenten — denn die sind bei Erwachsenen bisher nicht zugelassen. "Sobald es diese Zulassung gibt, wird die Diskussion um die Medikamente erneut hochkochen", sagt Döpfner.

Das könnte schon bald der Fall sein: Das Pharmaunternehmen Medice aus Iserlohn rechnet noch in diesem Jahr mit einer Zulassung für sein ADS-Medikament für Erwachsene. "Der Antrag liegt beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte bereits vor", sagt Roland Fischer, Leiter der medizinischen Abteilung von Medice.

ADS-Medikamente sind umstritten. Der Stoff Methylphenidat, eine dem Amphetamin ähnliche Substanz, wirkt konzentrations- und damit leistungsfördernd. "In Managerkreisen wird der Stoff zur Leistungssteigerung missbraucht", sagt Döpfner, "damit man auch mal eine Nacht durcharbeiten kann." In den USA, wo die Medikamente für Erwachsene erhältlich sind, tobt schon die Debatte um das sogenannte "Hirndoping": Studenten nehmen die Pillen, um im Examen besser abzuschneiden, Arbeitnehmer treiben dank der Pillen ihre Karrieren mit überdurchschnittlicher Leistung voran.

"Der Missbrauch wird sich auch hierzulande deutlich ausweiten, sobald die Medikamente zugelassen sind", sagt Döpfner. "Denn wer die ADS-Symptome kennt, kann so eine Krankheit beim Arzt vorspielen und sich die Diagnose erschleichen."

Wie brisant die Gefahr eines massenhaften Missbrauchs ist, macht eine Studie der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Mainz deutlich: 80 Prozent der befragten Schüler und Studenten gaben an, sie seien offen für die Einnahme leistungssteigernder Medikamente, falls diese legal erhältlich und nebenwirkungsfrei wären.

Die Krankenkassen bestätigen, dass bei Kindern schon jetzt die Verschreibung von Psychopharmaka rasant zunimmt. Laut einer Studie der KKH-Allianz wurden 3,8 Prozent der Kinder zwischen sechs und 18 Jahren in Deutschland 2009 mit Psychostimulanzen wie Methylphenidat behandelt. Im Vergleich zu 2005 ist das eine Steigerung von 52 Prozent — in NRW stieg der Anteil gar um 72 Prozent.

Laut KKH-Allianz liege die Vermutung nahe, dass Eltern Ärzte dazu drängen, das Medikament zu verschreiben — um die schulische Leistung des Kindes zu verbessern. Wegen Fehlverordnungen und Nebenwirkungen hat das Bundesinstitut die Zulassung nun eingeschränkt.

Für Thomas Dereser sind das keine Argumente, die gegen eine Zulassung des Medikamentes für Erwachsene sprechen. Der Arzt hat ihm Ritalin auf eigene Haftung verschrieben. Dereser trägt die Kosten für das Medikament selbst. Ritalin, sagt er, habe seine Ehe gerettet, sein Leben geordnet.

"Früher bin ich sofort gescheitert, wenn eine Aufgabe ein wenig Geduld erforderte", erzählt er. "Ließ sich der Zipfel an einer Wurstverpackung nicht gleich abziehen, habe ich sie in die Ecke gepfeffert." Streit mit seiner Frau eskalierte regelmäßig. "Jetzt kann ich Probleme diskutieren, ohne gleich auf 180 zu sein." Auch seine Job-Odyssee hat ein Ende. "Bis ich Ritalin genommen habe, hielt ich es nie lange an einer Arbeitsstelle aus", sagt er.

Die Möglichkeit eines Missbrauchs sieht auch Dereser. "Aber deshalb darf man das Medikament nicht den Menschen vorenthalten, die es wirklich brauchen", sagt der 45-Jährige.

(RP)
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