Magersucht bei Männern "Ich wollte mich zu Tode hungern"

Mönchengladbach · Magersucht wird vor allem mit Frauen in Verbindung gebracht. Doch auch Männer leiden darunter. Raimund Ludwig ist einer von ihnen.

 Raimund Ludwig hat gelernt, die Essstörung zu kontrollieren. Bis er akzeptierte, krank zu sein, war es jedoch ein langer Weg.

Raimund Ludwig hat gelernt, die Essstörung zu kontrollieren. Bis er akzeptierte, krank zu sein, war es jedoch ein langer Weg.

Foto: Andreas Bretz

Der Gewichtsverlust kam langsam, fast schleichend. So, dass ihn niemand bemerkte, vielleicht zurückführte auf die Jugend, eine bessere Kalorienverbrennung. Statt drei Kartoffeln hat Raimund Ludwig nur zwei genommen, statt zwei Fleischscheiben nur eine. Oder Ausreden erfunden. Dass er bereits alleine in der Küche gegessen habe, zum Beispiel. Dass es ihm gerade nicht so gut gehe. Dass er heute nicht so großen Hunger habe. Immer kleiner wurden die Portionen, immer weniger der Mensch. "Was andere an einem Tag zu sich nehmen, habe ich in einer Woche gegessen", erzählt Ludwig. Irgendwann wog er nur noch rund 50 Kilogramm, bei 1,89 Meter Körpergröße. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war klar: Ludwig hat ein Problem. Er leidet an Magersucht.

Ein offener Mensch

Wer Raimund Ludwig heute trifft, erlebt einen aufgeräumten, offenen Menschen. Etwas schlanker als der Durchschnitt, das schon, aber nicht besorgniserregend dünn. Zumindest im Moment nicht. Es geht ihm gut. Der 27-Jährige erzählt freimütig wie reflektiert über seine Krankheit, hält dabei oft Blickkontakt. Über die Auseinandersetzung mit der Anorexia nervosa - so lautet der Fachbegriff für Magersucht - hat der Klever an Selbstbewusstsein gewonnen, er akzeptiert die Krankheit mittlerweile als Teil seiner Persönlichkeit. Aber bis dahin war es ein weiter Weg, bis zu dem Eingeständnis, psychisch krank zu sein, an einer schweren Essstörung zu leiden. Heute wissen alle Menschen in seinem Umfeld Bescheid, Familie, Freunde, Kommilitonen. Sogar im Mittelpunkt einer WDR-Doku steht Ludwig. All das, sagt er, sei für ihn auch Teil der Therapie. Sich der Anorexie entgegenzustemmen, sie zu bekämpfen.

Magersucht gilt als Frauenkrankheit - es sind deutlich mehr Frauen als Männer betroffen, rund 0,5 Prozent der Bevölkerung zu 0,05 Prozent. Das Verhältnis betrage etwa 1:10, sagt Thomas Huber, Chefarzt der Klinik am Korso in Bad Oeynhausen, die sich auf die Behandlung von Patienten mit gestörtem Essverhalten spezialisiert hat. Für magersüchtige Männer bedeutet das, sie sind doppelt stigmatisiert - sie leiden an einer psychischen Störung, die noch dazu vor allem Frauen betrifft. "Das ist oft ein sehr schambesetztes Thema", erklärt Huber. Männer würden ohnehin seltener zum Arzt gehen, eine psychische, in der Öffentlichkeit mit Frauen verbundene Erkrankung reduziere die Bereitschaft noch weiter. Huber: "Für Männer ist das sehr schwierig."

Günstigere Prognose

Deshalb bietet die Klinik am Korso auch Angebote speziell für Männer, etwa eine spezifische Körpertherapie oder nur männlich besetzte Gesprächsrunden. Denn auch in den meisten Therapiezentren sind magersüchtige Männer in der Minderheit. "Grundsätzlich aber ist die Behandlung von männlichen und weiblichen Patienten nicht unähnlich", sagt Huber. Die Unterschiede seien viel geringer als die Gemeinsamkeiten, auch die Hintergründe der Krankheit seien oft vergleichbar. Für alle Betroffenen wichtig: "Eine Heilung der Essstörung ist möglich", sagt Huber. Auch ohne lebenslange therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Und hier ist das sogenannte starke Geschlecht im Vorteil: "Männer haben bei der Heilung statistisch gesehen eine günstigere Prognose."

Angefangen hat es bei Ludwig mit der Krankheit, als er 13 war. Damals habe er sich hässlich gefühlt, erzählt er, und sah dann eine TV-Werbung, in der herausstehende Wangenknochen als Schönheitsideal propagiert wurden. Ludwig beschloss, dem nachzueifern. Ein fataler Entschluss. Den er mit niemandem teilte, auch nicht mit seinem Zwillingsbruder Alexander. Dafür wurde er gut darin, andere zu täuschen. "Ich habe mir etwa Soße auf den Teller getan, damit er dreckig ist und ich behaupten konnte, dass ich schon gegessen habe", sagt Ludwig. Liebeskummer, Ärger mit Freunden und Kollegen während der Kochlehre, alles das förderte die Anorexie. Bis Ludwig sogar an Selbstmord dachte. "Sich langsam zu Tode zu hungern, schien mir der perfekte Suizid", erzählt er.

Wenn Raimund Ludwig von seiner Essstörung spricht, hört sich das an, als rede er von einer Person. Die Stimme der Magersucht sei es, die ihm einflüstere, dass es ihm gut gehe und er nicht auf sich achten müsse. Doch darauf dürfe er nicht hören, müsse dagegenhalten mit dem, was er in der Therapie gelernt habe. Dass er überhaupt Hilfe suchte, verdankt er seinem Mathe-Professor. Der nahm ihn eines Tages beiseite, weil ihm aufgefallen war, dass der Klever Student in den Vorlesungen Konzentrationsstörungen hatte. Im psychosozialen Beratungszentrum fiel dann zum ersten Mal der Begriff Anorexie. "Das hat mich erstmal verletzt", sagt Raimund Ludwig.

Er lässt nicht locker

Aber es war auch eine Befreiung. Plötzlich konnte Ludwig benennen, was ihm zu schaffen machte. Es auch anderen sagen, seine Nöte offenlegen, den Kampf aufnehmen. Bei Freunden erntete er zunächst viel Unverständnis. Auch in der Familie war es schwierig. Aber der Klever lässt nicht locker, ergattert einen Klinikplatz, will die Stimme der Magersucht zum Verstummen bringen. Am liebsten für immer.

Heute geht es Raimund Ludwig besser. Er studiert Lebensmittelwissenschaften an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach, will irgendwann in die Lebensmittelüberwachung. "Ich habe schon große Schritte in Richtung Normalität geschafft", sagt er. "Aber ich habe noch viel vor mir."

Denn noch schweigt die Anorexie nicht. Ludwig ist weiter in Therapie, seine Mitbewohner in der WG haben ein Auge auf ihn. Manchmal, wenn er merkt, dass seine psychische Verfassung kritisch wird, reibt Ludwig sich Thermosalbe auf den Arm. Der Schmerz lenkt ihn ab, auch vom Nahrungsentzug. Sein aktuelles Gewicht kann oder mag er nicht nennen. Er hat keine Waage, sagt er. Braucht er auch nicht. Ludwig hat wieder Appetit. Und er isst.

(RP)
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