Leben mit einer seltenen Krankheit Maresa hat das Brown-Vialetto-Van-Laere-Syndrom

Viersen · Eine seltene Krankheit hat das Leben einer jungen Frau komplett verändert. Die richtige Diagnose wird lange Zeit nicht gestellt. Bis ein Oberarzt am Universitätsklinikum Düsseldorf den entscheidenden Einfall hat.

Was wird aus ihrem Leben werden? Maresa, die im vergangenen Jahr Abitur gemacht hat, im Wohnzimmer ihrer Familie.

Was wird aus ihrem Leben werden? Maresa, die im vergangenen Jahr Abitur gemacht hat, im Wohnzimmer ihrer Familie.

Foto: Anne Orthen (orth)

Das Schicksal von Maresa aus Viersen hat mit einer Tür zu tun. Seit ihrer Geburt ist sie verschlossen und lässt sich nicht öffnen. Kaum ein Arzt kennt das Phänomen dieser geheimnisvollen Tür. Dabei ist ihr Schlüssel auch der Schlüssel zu Maresas Krankheit.

Unmerklich kam sie angeschlichen. Über die Jahre hörte Maresa (deren vollständiger Name der Redaktion bekannt ist) immer schlechter, und ein Tinnitus legte Störgeräusche über alles. Das Mädchen gewöhnte sich daran, von den Lippen zu lesen. Als in der Corona-Pandemie alle Leute ihre Münder mit Masken bedeckten, war Maresa überfordert: Ihre Augen konnten den Ohren nicht mehr helfen. „Hätte es Corona nicht gegeben, wäre alles vielleicht erst später aufgefallen“, sagt sie.

Im Juli 2021 geht sie mit ihren Eltern erstmals zum HNO-Arzt. Der absolviert diverse Tests, attestiert eine Innenohrstörung und verschreibt ein Hörgerät. Er vermutet, dass eine pathologische Flüssigkeitsansammlung in der Hörschnecke dahintersteckt.

Der Verdacht ist plausibel, führt jedoch ins Abseits. Das weiß jetzt noch niemand. Bei Maresa handelt es sich nämlich um eine seltene erbliche Krankheit, die in der Medizin unter zwei Namen geführt wird. Erstens: Brown-Vialetto-Van-Laere-Syndrom. Diese drei Forscher haben die Störung genauer beschrieben. Zweitens, schon sehr nahe an der Wurzel des Übels: Riboflavin-Transporter-Defekt (RTD).

Riboflavin, bekannt als Vitamin B2, produziert unser Organismus nicht selbst, sondern bekommt es über die Nahrung. Bei sehr wenigen Menschen aber – ein Kranker auf eine Million Gesunde – sind sozusagen die Türen, durch die Riboflavin in die Zellen des Körpers gelangt, verschlossen oder nicht einmal angelegt. Dieser Gen­defekt kann in der Zellwand des Darms oder in der Blut-Hirn-Schranke auftreten. Die Symptome sind tückisch. Bei manchen Betroffenen fallen Hirnnerven aus. Bei anderen tritt zudem ein Muskelschwund auf: Die Motoneurone, wichtige Nervenzellen unseres Körpers, können keine Impulse aus dem Gehirn an die Muskeln weitergeben. Der Kopf will, aber der Körper kann nicht.

Einstweilen hat Maresas Krankheit ein erstes Gesicht und befindet sich ansonsten in Tarnung – wer denkt schon an eine Rarität aus dem Katalog der „Orphan Diseases“, der seltenen Erkrankungen? In der EU gilt eine Erkrankung als selten, wenn sie nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen befällt. Da es aber mehr als 8000 seltene Erkrankungen gibt, summiert sich das – allein in Deutschland auf etwa vier Millionen Menschen.

Die Dunkelziffer bei all diesen Defekten liegt mangels Entdeckung höher. „Je seltener etwas ist, desto weniger wird ein Arzt daran denken“, sagt Thorsten Marquardt, Stoffwechsel-Experte an der Universitäts-Kinderklinik in Münster. Er kennt sich sehr gut mit RTD aus, obwohl es von der Krankheit derzeit weniger als hundert Fälle in Deutschland gibt. Vieles versteht er, manches noch gar nicht. Was er jedoch weiß: Schwerhörigkeit ist fast immer ein frühes Indiz. Kaum ein HNO-Arzt hat je davon gehört.

Maresas Medikament als Pulver in 7000-fach erhöhter Dosierung: Die Phosphat-Verbindung färbt ihre Haut gelb.

Maresas Medikament als Pulver in 7000-fach erhöhter Dosierung: Die Phosphat-Verbindung färbt ihre Haut gelb.

Foto: Anne Orthen (orth)

Auch Maresa wird irgendwann in Marquardts Untersuchungszimmer sitzen. Bis dahin gibt es reihenweise Diagnosen unter dem Motto Versuch und Irrtum.

Vor allem schichtet die Krankheit Stein um Stein auf die Mauer zwischen der jungen Frau und der Welt, an der sie so gern teilnimmt. Telefonieren wird unmöglich. Das Hörgerät bringt gar nichts. Im Spätsommer 2021 bekommt sie Ausfallerscheinungen in den Beinen und kann ihre Stirn nicht mehr runzeln. Die Gesichtsmuskulatur ist rechtsseitig wie taub, das Augenlid hängt, Essen und Trinken fallen schwer, das Lachen auch. Die Stimme klingt höher, weinerlich und angestrengt. Maresa kommt nach Bochum ins Krankenhaus. Die dortigen Neurologen finden nichts und legen sich mangels anderer Ideen fest: Es ist die Psyche. Vermutlich alles Einbildung. Vielleicht auch eine sogenannte Somatisierungsstörung, wie sie in der Corona-Pandemie bei vielen Kindern und Jugendlichen auftritt: Der Körper spielt verrückt, dabei schreit die Seele um Hilfe. Maresa soll Psychotherapie bekommen.

Maresa ist tapfer, sie besteht ihr Abitur, doch sie spürt, dass etwas in ihr wütet, das groß, unberechenbar und gefährlich ist. Der Vermutungshorizont ihrer Ärzte dagegen weitet sich nur langsam. Sie versuchen es mit Cortison, geben intravenös ein Antibiotikum (Ceftriaxon) und setzen Immunglobuline ein. Alles sind naheliegende, aber vergebliche Schüsse auf einen unsichtbaren Gegner. In ihrem Nervenwasser entdecken die Mediziner einen erhöhten Eiweißwert. Kann er für diese multiplen Ausfall­erscheinungen verantwortlich sein? Der Eingriff wird wiederholt. Nun ist der Wert normal.

Was geht hier vor sich? Warum schwanken die Symptome und Befunde? Wer findet den Schlüssel?

Maresa kämpft mit allem. Manche Leute wenden sich von ihr ab, weil sie unsicher sind, wie sie mit ihr umgehen sollen. Maresa spürt eine „Form von Diskriminierung, weil man mir meine Krankheit ja nicht ansieht. Mir wird das Gefühl vermittelt, dass ich weniger wert bin als ein Mensch ohne Handicap.“ Wer Maresa erstmals vor sich hat, muss in der Tat genau hinschauen, um Zeichen ihrer Krankheit zu erkennen. Doch kann er eine normale und intelligente Konversation führen, sofern er sein Redetempo anpasst.

Alle in der Familie sind spürbar umeinander besorgt. Wohin wird das führen? Geht es eines Tages tödlich aus wie bei ALS, der Amyotrophen Lateralsklerose? Das ist jene fortschreitende Muskellähmung, an welcher der Maler Jörg Immendorff starb, weil seine Atmung am Ende versagte. Tatsächlich wird bei Maresa unterdessen ein Lungenvolumen von nur noch 60 Prozent gemessen. Selbst Dr. House, der genialische Arzt aus der TV-Serie, würde hier mehr als nur grübeln.

In diesem Moment kommt Felix Distelmaier ins Spiel, bei dem sich Maresa vorstellt. Er ist Oberarzt an der Universitäts-Kinderklinik in Düsseldorf und Fachmann für mitochondriale Erkrankungen; das sind ebenfalls komplexe, genetisch bedingte Stoffwechselstörungen des Körpers. Mitochondrien sind die Kraftwerke der Zellen und stellen 90 Prozent des menschlichen Energiebedarfs bereit. Wenn sie erkranken, betrifft das häufig vor allem die Muskelzellen. Maresas Symptome erscheinen Distelmaier plausibel, doch etwas passt nicht. Auch Thomas Klenzner, der das Hörzentrum an der Düsseldorfer Uniklinik leitet und Maresa ebenfalls untersucht, ist irritiert über die bisherigen Diagnosen: „Die Muster passen einfach nicht.“

Irgendwann schießt Distelmaier ein Gedanke durch den Kopf: Und wenn es RTD ist? Zuvor hatte er bereits zwei Kinder mit dieser Krankheit behandelt. „An einen früheren Fall hat mich Maresa sehr erinnert“, berichtet er, „allerdings war jenes Kind deutlich jünger und stärker betroffen. Doch die Symptome ähnelten einander, vor allem die Lähmung der Gesichtsmuskulatur.“ Er schickt das Blut von Maresa und ihren Eltern für eine DNA-Sequenzierung ins Institut für Humangenetik nach Tübingen. Parallel beginnt er mit einer Behandlung. Als seine Verdachtsdiagnose bestätigt wird, stimmt Distelmaier seine Therapie mit den Kollegen vom „Academisch Medisch Centrum“ ab, dem Universitätsklinikum in Amsterdam. Dort werden europaweit sämtliche RTD-Fälle registriert.

Für Maresa und ihre Familie ist das Ergebnis bitter und doch ein Trost, denn alles Suchen, Bangen, Zweifeln (auch an sich selbst und den Ärzten) hat ein Ende. Der Riboflavin-Transporter-Defekt wurde ihr, wie es in der Genetik heißt, autosomal-rezessiv vererbt. Ihre Mutter trägt die Anlagen in sich und gab sie weiter, erkrankte aber nicht selbst. Bei Maresa selbst ereignete sich eine genetische Spontanmutation. Möglicherweise, vermutet Distelmaier, gab es auch einen Trigger: „Maresa hat wenige Jahre vor dem Ausbruch ihre Ernährung auf vegetarisch umgestellt.“ Was die meisten Menschen als problemlos erleben, kann im Ausnahmefall eine Krise auslösen.

Die Diagnose ist das eine, die Therapie das andere. Denn für die Behandlung bringt die Beobachtung aus Maresas aktuellem Schädel-MRT, dass ihr Gesichtsnerv eine „fleckige Struktur“ aufweist, nur wenig. Die Tür ist und bleibt ja zu, und will man Maresa überhaupt adäquat behandeln, muss das Riboflavin irgendwie dahin, wo es überlebensnotwendig gebraucht wird – vor allem über die Blut-Hirn-Schranke hinweg.

Maresa und ihre Eltern richten ihre Antennen nach allen Seiten aus, weil eine zweite Meinung das eigene Bild der Krankheit stabilisieren kann. Ihre Internet-Recherche führt sie zu Thorsten Marquardt nach Münster. Kommen ihre Ärzte einander ins Gehege? Im Gegenteil: Die Professoren Distelmaier und Marquardt entwickeln eine rege kollegiale Kommunikation, sind bei Maresa optimistisch und wollen sie auch in Zukunft betreuen. Die Behandlung verlangt Maresa aber enorme Disziplin und Überwindungskraft ab. Momentan muss sie Riboflavin in 7000-fach erhöhter Konzentration einnehmen, und zwar in einer Phosphat-Verbindung. Dieses Pulver, sagt Maresa, hat es in sich: „Meine Haut färbt sich gelb.“

Man ahnt, wie viel Energie sie die Krankheit kostet. Wie soll sie ihr Leben planen? Was soll sie lernen, was studieren? Passgenaue Prognosen gibt es nicht. Jammern aber ist nicht Maresas Ding. Sie denkt pragmatisch und hat ihrem Besucher sicherheitshalber ein paar Zitate aufgeschrieben – als Fazit und Botschaft: „Durch mein geringes Hörvermögen haben sich Menschen von mir abgewendet. Jedoch bin ich stärker geworden und weiß mehr denn je, wer immer an meiner Seite bleibt und worauf es im Leben wirklich ankommt.“

Von Distelmaier und Marquardt, ihren beiden Schlossern, hofft sie, dass sie diese sonderbare Tür in ihrem Körper mit einem Trick öffnen oder sonstwie überwinden. Und dann hofft die junge Frau, dass bald mal diese Farbe Gelb verschwindet.

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