Neue Studie mit überraschenden Ergebnissen Warum Kreuzbandrisse immer noch zu oft operiert werden

Düsseldorf · Gerissene Kreuzbänder heilen oft auch von alleine. Dennoch werden sie einer neuen Studie zufolge immer noch zu oft operiert. Sie belegt auch große Therapiechancen für die Strategie „Wait and See“.

 Für Knieverletzungen sind vor allem Fußballer, Handballer oder auch Skifahrer anfällig.

Für Knieverletzungen sind vor allem Fußballer, Handballer oder auch Skifahrer anfällig.

Foto: Silvia Marks/dpa

„Die Verletzung wird mich stärker machen.“ Es klingt fast ein wenig trotzig, wenn Fußball-Nationalspielerin Giulia Gwinn über ihren Kreuzbandriss spricht. Es ist bereits ihr zweiter, der erste geschah vor rund zweieinhalb Jahren, der letzte im vergangenen Oktober. Und die für Bayern München spielende Gwinn ist gerade mal 23 Jahre alt. Doch sie steht mit ihrer Verletzung beileibe nicht alleine da.

Denn nicht nur, dass Kreuzbandrisse geradezu epidemische Ausmaße im Frauenfußball angenommen haben, weil die weibliche Beinachse mit ihrem X-Verlauf eher ungünstig fürs Kicken ist. Sie gehören insgesamt mit rund 35.000 Fällen pro Jahr zu den häufigsten Knieverletzungen überhaupt. Neben Fußballern trifft es vor allem Skifahrer und Handballer, nur etwa 15 Prozent der Risse werden durch Unfälle in Beruf und Haushalt verursacht. Die Therapie erfolgt meistens operativ, indem das Band durch eine Sehne ersetzt wird, die an einer anderen Stelle des Körpers entnommen wurde. Doch das ist wohl, laut einer aktuellen Studie, nicht unbedingt die beste Wahl.

Das internationale Forscherteam um Stephanie Filbay von der University of Melbourne hat in einer Nachbeobachtung von 120 Kreuzbandrissen festgestellt, dass sie bei etwa jedem zweiten Patienten (im Alter von 18 bis 35 Jahren) auch ohne Operation abheilten. Bei der MRT-Untersuchung zeigten sich die Bänder dieser „Wait and See“-Gruppe wieder nahe der ursprünglichen Kontinuität, und bei funktionalen Tests schnitten ihre Kniegelenke fünf Jahre nach dem Unfall teilweise sogar besser ab bei denen, die sofort oder einige Wochen danach operiert worden waren.

Für Daniel Belavy, Professor für Physiotherapie an der Hochschule für Gesundheit in Bochum, ist dieses Ergebnis nicht überraschend: „Die wissenschaftliche Datenlage liefert in den letzten Jahren zunehmend Hinweise darauf, dass es keine klinisch relevanten Unterschiede zwischen der operativen und der konservativen Therapie des vorderen Kreuzbandrisses gibt.“ Die Operation gehe immer mit Risiken für den Patienten einher, sowie mit einem längeren Regenerationsprozess und erheblichen finanziellen Kosten. „Doch ob sie tatsächlich bessere Heilungsaussichten für jeden vorderen Kreuzbandriss bietet, ist nicht evident“, betont Belavy.

Dies gilt auch für die immer wieder zu hörende These, wonach ein Kreuzbandriss unbedingt operiert werden muss, weil sonst eine Arthrose, also ein Knorpelverschleiß im Gelenk droht. Das klingt zwar nachvollziehbar, weil ein instabiler Bandapparat für ungünstige Belastungen im Gelenk sorgt. Doch den Arthrose-Verdacht kann die wissenschaftliche Datenlage nicht bestätigen – und die therapeutische Praxis auch nicht. So wird in Schweden deutlich seltener wegen eines Kreuzbandrisses operiert als hierzulande und in den USA, und doch kommt es in dem skandinavischen Land keinesfalls öfter zu Arthrose.

Der therapeutische Erfolg einer Operation scheint also begrenzt, und das liegt nicht zuletzt daran, dass der Körper offenbar über eigene wirkungsvolle Strategien verfügt, um die Instabilität im Gelenk aufzufangen. „Das Kreuzband hat natürlich seine biomechanischen Funktionen“, erläutert Belavy. „Aber der Organismus kann offenbar seinen Ausfall ganz gut kompensieren.“ So zeigte sich in einer Studie der Berliner Charité, dass die Patienten beim Laufen weniger im Kniegelenk ausdrehen, als man es aufgrund ihrer Kreuzbandverletzung vermuten würde. Hauptursache dafür ist die Muskulatur, die für das ausgefallene Band als Stabilisator für das Gelenk in die Bresche springt. Vorausgesetzt, sie wird entsprechend trainiert.

Der Verzicht auf eine OP macht also nur Sinn, wenn „Wait and See“ nicht als komplette Untätigkeit verstanden wird, sondern als Regeneration, die durch ein Reha-Programm unterstützt wird. „Das physiotherapeutischen Rehabilitationsprogramm dauert in der Regel etwa drei Monate“, berichtet Belavy. Dabei ginge es nicht nur um Kräftigung, sondern auch um eine Schulung des Gleichgewichts, um ungünstige Gelenkbelastungen zu verringern. Und danach könne man, sofern sich deutliche Heilungsfortschritte gezeigt hätten, das Übungsprogramm reduzieren. Oder sich auch, bei ausbleibenden Fortschritten, noch für eine Operation entscheiden. „Der Entschluss, es erst einmal ohne Operation zu versuchen, heißt nicht, dass danach keine Operation mehr möglich ist“, betont Belavy.

Wie überhaupt die Entscheidung für oder gegen eine Operation nicht kategorisch gefällt werden, sondern vom einzelnen Patienten und seiner individuellen Situation abhängen sollte. So kommt ein Forscherteam um den Münchener Orthopäden und Knie-Spezialisten Philipp Niemeyer zu dem Schluss, dass sich die Menschen stark darin unterscheiden, wie sie mit einem Kreuzbandriss umgehen. Da gibt es die „Coper“, die schon bald wieder zu ihren ursprünglichen Alltags- und Sportaktivitäten zurückkehren; die „Adapter“, die ihre Aktivitäten ihrer neuen Kniegelenkssituation anpassen; und schließlich die „Non-Coper“, die mit ihrem beschädigten Kreuzband nicht klarkommen und immer wieder mit Episoden der Knie-Instabilität zu schaffen haben. Die Coper und Adapter gelten als gute Kandidaten für eine konservative Behandlung, bei den Non-Copern empfiehlt sich hingegen eine operative Therapie.

Bleibt die Frage, wie sich die einzelnen Gruppen in der Bevölkerung aufteilen. „Früher ging man davon aus, dass jede von ihnen etwa ein Drittel aller Patienten ausmacht“, erläutert Niemeyer. Doch mittlerweile hätten Studien gezeigt, dass die Coper-Quote bei Sportlern nur bei sechs Prozent liegt. Mit anderen Worten: Gerade diejenigen, die in besonderem Maße auf ein stabiles Kniegelenk angewiesen sind, haben die größten Probleme, wenn es darum geht, mit einem Kreuzbandriss klarzukommen. Niemeyer und Kollegen raten daher in solchen Fällen zur umgehenden Operation.

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