Seltene Krankheiten Im Labyrinth der Medizin

Düsseldorf · Vier Millionen Menschen in Deutschland sind von seltenen Krankheiten betroffen. Wenn sie Glück haben, wird die Diagnose früh gestellt. Die Prognose verbessert das jedoch oft nicht.

 Der an ALS erkrankte Düsseldorfer Kunstprofessor Jörg Immendorff in seinem Atelier. Im Jahr 2007 starb er nach zehnjähriger Krankheit.

Der an ALS erkrankte Düsseldorfer Kunstprofessor Jörg Immendorff in seinem Atelier. Im Jahr 2007 starb er nach zehnjähriger Krankheit.

Foto: Bretz, Andreas

Es sind diese Fälle, bei denen Dr. House zu großer Form aufläuft. Am Anfang, wenn die Symptome eines Patienten beunruhigend, aber noch unklar sind, verordnet der Fernseharzt gelangweilt die obligatorischen Routine-Checks: klinische Untersuchung, großes Labor, Ultraschall, Röntgen, Computertomografie.

In schlimmen Fällen redet er mit dem Patienten. Dann dringen Details ans Licht, die House zum Nachdenken zwingen. Und allmählich beginnt auf der inneren Leinwand von House ein Film zu flimmern, der unaufhaltsam auf die Lösung zuläuft. Nach 55 Minuten, wenn der Tod an die Intensivstation donnert, wird der Fall in Houses Kopf durch den Blitz einer Erkenntnis gelöst, sein Mund ruft die Diagnose in den Raum und frostig eine Therapieempfehlung: „Geben Sie Doxycyclin.“ Abspann.

Der Retter in höchster Not, der im Stollen der medizinischen Raritäten erfolgreich nach der rettenden Diagnose geschürft hat, ist ein Fall fürs Fernsehen: dramatischer Verlauf, Suspense, positive Wendung am Ende. Im wirklichen Leben sind wirklich komplizierte seltene Krankheiten kaum je mit Antibiotika oder hypermodernen Operationen zu behandeln, meistens lassen sie sich auch gar nicht in den Griff bekommen. Weil selbst die Ärzte von dieser Krankheit kaum je gehört haben.

Gewiss sind diese Fälle besonders spannend, weil der Heilkundige zum Kriminalisten wird; zugleich profitieren ja auch die Patienten von dieser Erregungskurve des Mediziners, die eine berufssportliche Seite besitzt. Doch, wie gesagt, viele der seltenen Krankheiten, der sogenannten „orphan diseases“, sind schlecht zu behandeln. Jedenfalls definiert eine EU-Verordnung sie als solche, „die lebensbedrohend sein oder eine chronische Invalidität nach sich ziehen“ können und von denen in Europa „nicht mehr als fünf von zehntausend Personen betroffen sind“. Der „Allianz Chronischer Seltener Krankheiten (Achse)“ zufolge sind ungefähr 8.000 seltene Erkrankungen bekannt. In Deutschland gibt es rund vier Millionen Betroffene. In 80 Prozent der Fälle handelt es sich um einen Gendefekt, der die Krankheit ins Rollen bringt.

Vier Millionen – das klingt nach breiter Basis, doch die Unterstützung der Patienten gestaltet sich meist schwierig. Immer sind sie weit verstreut, im Gegensatz zu den Experten, die meist an den Fingern einer Hand abzuzählen sind. Die Durchführung schlagkräftiger Studien mit statistischer Power ist kaum möglich, ebenso sind die Wege zu guten Behandlungs- und Versorgungsmöglichkeiten häufig nicht klar. Dies führt dazu, dass die Einzelnen sich oft mit ihrer Erkrankung allein gelassen fühlen und eine Diagnose deutlich verzögert gestellt wird. Eine seltene Erkrankung stellt alle vor Herausforderungen. Zuweilen werden die Betroffenen anfangs nicht ernstgenommen, weil sie nicht ins Raster statistisch erwartbarer, gängiger Erkrankungen passen.

Das größte Problem ist die geringe Zahl der Patienten. An der Stoffwechselkrankheit Morbus Pompe, die zu schwerwiegender, durch Atemversagen tödlicher Muskelschwäche führt, leiden in Deutschland nur 200 Menschen. Hierbei hat ein genetischer Defekt das Enzym saure α-1,4-Glucosidase beschädigt, es kann seinen Abbauaufgaben nicht nachkommen. So sammelt sich Glykogen in überhöhter Konzentration in den Muskeln an. Es ist kein Kunstfehler, wenn ein Hausarzt die Krankheit nicht erkennt.

Vor einigen Jahren blickte schier die gesamte zivilisierte Welt mit dem Fernrohr in die Problematik einer tückischen Erkrankung, die allerdings jeder Neurologe auf dem Radar hat, wenn ein Patient sich mit einschlägigen Symptomen vorstellt: die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Auch dies ist eine seltene neurologische Erkrankung, die zu umfassenden und am Ende tödlichen Lähmungen der Körpermuskulatur führt. An ihr starb – nach zehnjähriger Krankheit – der Maler Jörg Immendorff. Durch die international zirkulierende „ALS Ice Bucket Challenge“, bei der sich Menschen Kübel voll Eiswasser über den Kopf schütteten und für die ALS-Forschung spendeten, wurde durch dieses kraftvolle Happening Bewegung und Geld mobilisiert: So bekam die ALS-Ambulanz der Charité in Berlin innerhalb von 10 Tagen von mehr als 10.000 Menschen über 680.000 Euro überwiesen.

Ebenso krass wirkt Morbus Hunter, eine Stoffwechselkrankheit, die von 150.000 neugeborenen Jungen nur einer bekommt und deren Symptome sich geradezu erschreckend gerecht über die Bereiche der Humanmedizin verteilen. Nicht grundlos spricht man von einer systemischen Krankheit. Die Betroffenen werden heiser, sehen schlechter, bekommen Gelenkprobleme, leiden zunehmend an Schwerhörigkeit, werden von Spastiken und Gelenkveränderungen heimgesucht, Leber und Milz vergrößern sich. Die Patienten können oft nur symptomatisch therapiert werden.

In Deutschland werden die seltenen Kranken vor allem von den Universitätskliniken betreut. Dort haben sich fast überall Zentren für seltene Krankheiten gegründet, in denen die verschiedenen Abteilungen eng zusammenarbeiten. Immer sind die Kinderärzte und die Humangenetiker, die Neurologen und die Hautärzte, die Gastroenterologen und die Orthopäden, die Rheumatologen, Gynäkologen und Augenärzte eng eingebunden. Und jedes dieser Zentren weiß auch, welche Krankheit in welchem Zentrum am häufigsten und intensivsten versorgt wird.

Nehmen wir das Beispiel Kalziphylaxie: Dies ist eine lebensgefährliche Nierenkrankheit, bei der Kalzium- und Phosphatsalze in die Wände der Blutgefäße und ins Unterhautfettgewebe eingelagert werden und es zu einem schmerzhaften Knochenabbau kommt, der Osteoporose ähnlich. Die Patienten leiden zunächst aber an schrecklichem Juckreiz, bläulichen Verfärbungen der Haut, die Geschwüre nach sich ziehen, sich entzünden und absterben; nicht selten muss amputiert werden. Weil die bakteriellen Superinfektionen nur schwer zu kontrollieren sind, ist die Lebenserwartung sehr eingeschränkt. Um so wichtiger, dass ein Patient am Referenzzentrum, dem Universitätsklinikum Aachen, behandelt wird – oder dass seine Ärzte mit Aachen in Kontakt stehen.

Aber machmal wird der Internist vom Niederrhein im Labyrinth der seltenen Krankheiten plötzlich selbst zum Dr. House, weil er die richtige Frage stellt. Kommt ein Mann zu ihm mit Schwäche und Bauchweh, ihm ist speiübel, er muss sich häufig erbrechen und hat Durchfall. Als Fieber, Muskelschmerzen und Schwellungen im Bereich der Augen hinzukommen, macht sich der Mann ernstlich Sorgen, und er geht zum Arzt. Der untersucht, denkt nach und stellt irgendwann die Frage: Waren Sie in letzter Zeit verreist? Ja, er war am Polarkreis, habe gejagt und das Wild eingefroren mitgebracht.

Damit ist fast alles klar, jetzt muss der Arzt nur noch auf die Bestätigung durch das Differentialblutbild warten. Und weil der Wert der sogenannten Eosinophilen turmhoch gestiegen ist, ist die Diagnose eindeutig: eine Parasiten-Erkrankung, genannt Trichinellose, und zwar durch Trichinella nativa. Dieser Typ Fadenwurm kommt im hohen Norden vor, wo totes Wild nicht immer veterinärmedizinisch begutachtet wird, und ist überaus widerstandsfähig gegenüber Temperaturen. Der Arzt kennt dann auch das Medikament, das bei Parasiten-Erkrankungen verabreicht werden muss. Patient geheilt.

Alle anderen Menschen, die an einer seltenen Erkrankung leiden, müssen hoffen, dass sich ähnliche ärztliche Erkenntnisschübe und Fortschritte der Therapie auch bei ihnen ereignen. Bis dahin verweilen sie im medizinischen Irrgarten.

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