Familien "Ich bereue, Mutter zu sein"

Düsseldorf · Es gibt Frauen, die in ihrer Mutterrolle aufgehen, und es gibt Mütter, die mit ihrer Mutterschaft hadern. Das liegt auch an unserer Erwartungshaltung. Die Gesellschaft hat zu hohe Ansprüche an Mütter und zu niedrige an Väter.

 Baby glücklich, Mutter glücklich. Leider ist das nicht immer so.

Baby glücklich, Mutter glücklich. Leider ist das nicht immer so.

Foto: Shutterstock.com/Oksana Kuzmina

Jessika Rose wollte unbedingt Kinder, der Wunsch brannte sich in ihr ein. Drei Jahre und sechs künstliche Befruchtungen dauerte es, bis ihre erste Tochter geboren wurde. "Ich fühlte mich endlich vollkommen und trotzdem einsam, ich vermisste plötzlich mein altes Leben", schrieb sie vor gut einem Jahr in ihrem Blog "Herz und Liebe". "Immer wieder schleichen sich Gedanken in meinen Kopf, dass das alles gar nichts für mich ist." Darf eine Mutter öffentlich bereuen, Mutter geworden zu sein?

"Regretting Motherhood"

Die 32-Jährige war eine der ersten in Deutschland, die auf die israelische Studie der Soziologin Orna Dornath reagierte. Unter dem Hashtag "Regretting Motherhood" — was so viel bedeutet wie "bereute Mutterschaft" — sorgte das Thema weltweit für Aufsehen. In Deutschland nimmt die Debatte gerade an Fahrt auf. Inzwischen haben sich auch Wissenschaftler hierzulande mit dem Thema befasst, zum Beispiel die Soziologin Christina Mundlos. "Wenn Mutter sein nicht glücklich macht: Das Phänomen Regretting Motherhood" heißt ihr Buch.

Sie sieht die bereuenden Mütter nicht als Exotinnen auf der einen Seite und alle anderen Mütter auf der anderen Seite. "Vielmehr handelt es sich um ein Kontinuum mit fließenden Übergängen. An dem einen Pol befinden sich diejenigen Mütter, die voll und ganz in ihrer Rolle aufgehen. An dem gegenüberliegenden Pol befinden sich die bereuenden Mütter, die durchgängig und langfristig mit ihrer Mutterrolle unglücklich sind", sagt sie. Und dazwischen liege der Rest.

Nur wenige geben zu, gestresst zu sein

Tatsächlich geben aber nur die wenigsten Frauen zu, dass sie gestresst, vielleicht sogar genervt sind von ihren Kindern. Jessika Rose geht offen mit ihren Gedanken um. "Ich bereue es, Mutter geworden zu sein, aber ich bereue nicht meine Kinder. Ich liebe sie. Ich wünsche mir nicht, dass sie nicht hier wären, ich möchte einfach keine Mutter sein", heißt es in ihrem Blog. Mit diesen Worten polarisiert Jessika Rose. Für diese Worte bekommt sie viel Feedback. Positives, von Menschen, die ihr für ihre Ehrlichkeit danken, und Müttern, die genauso fühlen. Aber auch negatives. Die Diskussionen im Netz bewegen sich zwischen Zuspruch und Beleidigung. Jeder hat irgendetwas zum Thema beizutragen.

Die Psychologin Heike Kaiser-Kehl ist keine große Befürworterin solch öffentlicher Debatten. Inzwischen werde jede Regung in einem Blog festgehalten. Es sei nicht normal, jene Gefühle in einer solchen Öffentlichkeit zu diskutieren. Weil irgendwann auch die Kinder dieser Frauen das lesen können. "Da hat sich die Mutter einfach zurückzunehmen", findet Kaiser-Kehl.

Zurücknehmen — genau das beklagen viele Mütter, die sich an der Debatte beteiligen. Sie müssen verzichten, immer wieder, sind nicht frei, nicht unabhängig. "Das Internet vergisst nicht, das ist mir klar", sagt Zweifachmama Jessika Rose. Sie bereue ja nicht alles, "meine Kinder sind das Beste, was mir passiert ist. Nur ich selbst bleibe auf der Strecke als Frau, Ehefrau, Freundin, Tochter, als Individuum."

Aus allen Schichten

Jessika Rose hat einen Beruf, Hobbys, einen Ehemann, der sehr viel Verständnis hat für sie. Der soziale Status, der Bildungsgrad, die Schicht und die familiäre Situation sind bei den bereuenden Müttern ganz unterschiedlich. "Mangelnde Unterstützung durch den Partner oder der Umstand, alleinerziehend zu sein, mögen die Wahrscheinlichkeit aber erhöhen, dass eine Mutter bereut", meint Soziologin Christina Mundlos. Und manchmal lassen sich Frauen auch in die Rolle der Mutter drängen, weil die Gesellschaft es von ihnen erwartet und die Gesellschaft ganz genaue Vorstellungen davon hat, wie eine Mutter sein muss. Nämlich perfekt. Genau so eine Vorstellung hatte auch Rose immer von der Mutter, die sie für ihre Kinder sein wollte: weich, geduldig, die Kinder an erster Stelle. "So ist es in der Realität leider nicht immer", sagt sie.

Vielleicht geht es darum, eine andere Mutter zu sein, nicht dem Idealtypen mit der perfekten Tupperdosen-Sammlung und den selbst gebackenen Hafer-Dinkel-Möhrenkeksen zu entsprechen. Jessika Rose musste begreifen, dass sie, obwohl anders als die perfekte Super-Mama, eine nicht weniger gute Mutter ist. Das ist kein Allheilmittel für all die Mütter, die ähnliche Gedanken haben. Vielleicht aber ein Ansatz.

Oder erwartet die Gesellschaft zu viel von einer Mutter? "Diese Diskussion ist fast antifeministisch", meint Heike Kaiser-Kehl. Vermeintlich werde mit der Debatte etwas für die Frauen getan, weil sie endlich sagen können, was ihnen auf der Seele brennt. In Wirklichkeit dürfe es aber nicht nur um die Frauen gehen. "Was ist mit den Vätern?", fragt die Psychologin. Manche würden genauso bereuen, Vater geworden zu sein. Und es wären noch sehr viel mehr Väter, wenn die Gesellschaft von ihnen nur annähernd dasselbe erwarten würde wie von Müttern, meint Christina Mundlos.

Väter haben mehr Spielräume

"Väter haben andere Handlungsspielräume, die ihnen die Gesellschaft zugesteht", ist die Soziologin überzeugt. Das Kleinkind zahnt, und der Vater flüchtet sich zum Sport oder in die Arbeit. "Flüchtende Väter und bereuende Mütter — das geht Hand in Hand", erklärt Mundlos. Nach den Vätern fragt in dieser Diskussion tatsächlich kaum einer. Im Mittelpunkt stehen die Mütter. "Ich glaube, dass irgendwann jede Mutter mal bereut", sagt Jessika Rose. Heike Kaiser-Kehl bestätigt die These: "Es ist ganz normal, wenn Mütter genervt sind." Und es sei gut, über das Thema Reue mit jemandem zu sprechen - in einem intimen Rahmen —, damit die Reue ins Leben integriert werden kann.

Kein Kind stelle seine Mutter infrage, hat Jessica Rose gelernt. "Diesen Druck müssen wir von den Müttern nehmen. Jede Mutter ist in Ordnung", findet sie. Und aus diesem Grund wird sie weiter über das Muttersein schreiben — öffentlich, ehrlich, ungeschönt.

(RP)
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