Herr Raue, nehmen wir an, ein Mensch verbringt in Ihrem Restaurant einen oder mehrere Abende. Und dann serviert man ihm oder ihr irgendwo, irgendwann einen Löffel mit Essen von Tim Raue. Erkennt dieser Mensch Ihren Stil wieder?
Sternekoch im Interview Muss ein Koch ein guter Mensch sein?
Interview | Berlin · Jahrelang kochte er mit Fernweh, jetzt hat es das Heimweh auf die Karte seines Zwei-Sterne-Restaurants geschafft: Tim Raue über seine kulinarische Handschrift und das neue Berlin-Menü.
Tim Raue (überlegt) Also, ich würde nicht dran glauben. Aber ich weiß, dass mein Stil ganz gut funktioniert. 2007 bin ich „Koch des Jahres“ geworden in Deutschland, sehr jung damals. Und der, der mich ausgezeichnet hat, hat zu mir gesagt: Sie stehen übrigens am Anfang Ihres Weges. Ich habe gedacht: Was erzählt der für eine Scheiße? Aber er hat natürlich recht gehabt. Ich habe mich daraufhin wirklich hinterfragt. Was will ich machen, wofür schlägt mein Herz, was möchte ich auf die Teller bringen? 2003 war ich dann in Singapur gewesen. Und da kriegt man halt alle asiatischen Küchen, Vietnamesisch, Thailändisch, Japanisch, aber auch die ganzen chinesischen Regionalküchen. Ich habe sehr schnell festgestellt: Ich mag den Purismus der Japaner. Ich mag thailändische Aromen - diese Süße, Säure, Schärfe. Und schlussendlich mag ich, die Technik der chinesischen Küche zu nehmen – zum Beispiel Fisch zu dämpfen, anstatt ihn so wie die Franzosen mit Tonnen von Butter zu braten. Und daraus habe ich dann eine eigene Küche entwickelt. Ich habe Kartoffeln, Reis und Nudeln aus der Küche geschmissen. Wir haben kein Brot und Butter mehr serviert. Wir haben nur laktosefreie Milchprodukte genommen, keinen weißen Zucker. Du isst sechs Gänge und du fühlst dich leicht. Sehr, sehr schnell hat sich manifestiert, dass ich einfach etwas anders mache als die anderen. Und weil meine Geschäftspartnerin Marie-Anne Wild und ich erfolgreich damit geworden sind, ist das ein Selbstläufer geworden.

Ein Abend im Restaurant Tim Raue
Es gibt diese alte Debatte, ob Köche eher Künstler oder eher Handwerker sind – oder beides. Chinesische Kochtechniken – das klingt nach Handwerk. Thailändische Aromatik – das ist dann vielleicht eher der künstlerische Teil. Was ist prägender für den kulinarischen Stil eines Kochs – Handwerk oder Kunst?
Raue Ich glaube, es ist die Persönlichkeit und das, was du aussagen willst. Sven Wassmer aus der Schweiz zum Beispiel, der im „Memories“ gerade drei Sterne gekriegt hat, macht eine völlig eigenständige alpenländische Küche. Er bringt Zutaten so reduziert auf den Teller, die ich beim ersten Mal Essen noch nicht verstanden habe. Ich habe gedacht: Puh, ein bisschen lahmarschig, was du da machst. Ich bin früher so hektisch unterwegs gewesen. Und als ich dann zwei Jahre später ein bisschen zur Ruhe gekommen war und noch mal eine Chance hatte, bei Sven zu essen, habe ich auf einmal gemerkt, dass das unglaublich schön ist, was er macht, weil er ein ganz, ganz liebenswerter Kerl ist, der diese Liebenswürdigkeit auf den Teller bringt. Es geht darum, dass du als Mensch deinen Charakter ausdrückst. Jan Hartwig zum Beispiel, der jetzt in München seinen eigenen Laden aufgemacht hat, war früher supertechnisch und sehr kleinteilig und absolut perfektionistisch. Von deutscher Ingenieurskunst getrieben: Was kann ich noch zeigen? Und jetzt ist er unglaublich bei sich gelandet. Er zeigt ganz viel von seinem Herzen, ganz viel von seiner Persönlichkeit. Und das ist einfach eine Form von wunderbarer kulinarischer Wollust, die manchmal elfenhafter daherkommt, als er aussieht. Geht mir auch so (lacht). Das sind für mich die schönsten Gänge: Ich habe bei ihm einen Saibling gegessen, der ihn so gezeigt hat, wie es selten öffentlich der Fall war, weil er, glaube ich, immer Angst hatte, ob er genug ist. Und jetzt weiß er, dass er es ist. Schwierig sind Köche und Köchinnen, die Kopisten sind, die keinen eigenen Charakter, keine eigene Struktur haben und einfach irgendwas auf dem Teller zusammenwürfeln. Das kann gut genug sein, um auch Sterne, Punkte und andere Meriten zu kriegen. Aber ob das prägend ist?
Muss man demnach ein guter Mensch sein, um richtig gut zu kochen?
Raue Ich glaube, es hilft, wenn man als Gastronom oder Gastronomin den Wunsch hat, anderen etwas Gutes zu tun. Wenn du nicht großzügig bist, kannst du so hoch bewertet sein, wie du willst. Der Mensch spürt das, wenn er drei Körnchen Kaviar serviert bekommt anstatt 15 Gramm. Oder der Trüffel wird dünn gehobelt wie Briefmarken. Handwerk kann man erlernen. Was man aber überhaupt gar nicht erlernen kann, ist, etwas zu kreieren. Beim Guide Michelin sind 300 Restaurants im Bestand. Davon sind, glaube ich, 50 oder 60 mit zwei Sternen ausgezeichnet. Nur zehn haben drei Sterne. Das heißt: einer pro Generation. Es gibt also die, die was ganz Besonderes haben, eine Gabe. Und unter diesen Begabten wiederum gibt es – wie überall – Arschlöcher, es gibt nette Leute, es gibt Leute mit Haltung. Ich glaube ganz fest daran: Die beste Küche machen wir mit einem Küchenteam, in dem die Menschen Haltung haben, Loyalität, nett sind, einen guten Charakter haben und sich freuen, etwas für andere tun zu dürfen.
Viele Künstler – Maler, Musiker, Schauspieler – verarbeiten mit ihrer Kunst biografische Brüche, eigenen Schmerz. Ist das auch bei der Kochkunst der Fall? Sie selbst haben oft darüber gesprochen, dass Sie als Kind vom Vater misshandelt wurden. Aber dass Schmerz in dem steckt, was man auf einen Teller bringt, von dem Menschen essen sollen, ist schwer vorstellbar.
Raue Das muss wahrscheinlich jeder Koch für sich selbst beantworten. Ich selbst würde sagen, in meiner Kreation steckt kein Schmerz. Ich fühle keinen Schmerz. Ich bin aber auch kein großer Künstler, das muss ich ganz klar sagen. Ein großer Künstler ist für mich Ferran Adria, der ab Ende der 90er Jahre die Küche komplett neu gedacht hat. Oder René Redzepi mit dem Noma, den ich zwar als Arbeitgeber für äußerst diskussionswürdig halte, der aber als Gastronom etwas einzigartiges geschaffen hat. Ich bin im Vergleich zu denen ein kleines Licht.
Immerhin hat Netflix Ihnen eine Episode der Serie „Chef’s Table“ gewidmet – das wird nicht vielen Köchen weltweit zuteil. Darin sprechen Sie vom „Tim Twist”, dem besonderen Etwas, das Tim Raue seinen kulinarischen Kreation mitgibt. Gibt es den wirklich oder haben Sie diesen Begriff für Netflix erfunden?
Raue „Tim Twist” bedeutet, dass die Gerichte dreidimensional schmecken müssen. Ich kann das an einem Gericht erklären, das wir gerade neu auf der Karte haben. Es ist Teil unseres Berlin-Menüs. Anderthalb Jahrzehnte habe ich mit Fernweh nach Asien gekocht, Aber mit 220 Tagen Reisen im Jahr kam irgendwann das Heimweh. Daher gibt es jetzt im Restaurant Tim Raue ein brandenburgisch-berlinerisches Menü. Auf jeden Fall ging es da um einen Gang mit Zander, mit Sauerkraut, Erbsen und Minze. Wir hätten natürlich einfach ein paar Erbsen auf den Teller tun können, ein bisschen Sauerkraut, den Fisch dazu und nach Hause gehen. Aber es geht mir darum: Wie können wir das verbinden? Was macht Erbse größer? Minze. Minze nimmt Sauerkraut aber lustigerweise das Brachiale. Sauerkraut ist wie ein Pogo-Tänzer. Aber mit Minze wird es ein irischer Folk-Tänzer. Erbse braucht immer grüne Chili, um wirklich ätherisch zu wirken. Also ein Thai-Chili-Öl. Das Sauerkraut haben wir mit Ananas und Apfel angereichert, um eine Exotik reinzubringen. Als Soße haben wir eine Sauerkraut-Beurre-blanc gekocht: das Sauerkraut mit Schalotten sanft eingekocht und mit viel Butter gebunden. Dadurch haben wir eine Komplexität erreicht, die wunderbar funktioniert. Aber da fehlte noch so das Letzte, es war zweidimensional. Da haben wir Ananas-Saft mit Limetten-Saft eins zu eins cuviert und einen Spritzer draufgegeben. Das ist so wie ein Zischen auf dem heißen Stein. Das kitzelt am Gaumen. Das ist Deutschland, das ist Berlin.
Berlin hat Sie sehr geprägt - und Berlin hat sich sehr verändert in den letzten Jahren.
Raue Berlin ist im Wandel, Berlin ist vibrierend. Das Schlimme ist natürlich für einen Berliner wie mich zu sehen, dass die, die hierher kommen, dann auf einmal anfangen, sich um 22 Uhr zu beschweren, weil die Nachbarn zu laut sind. Sie bringen ihr Provinzdenken mit hierher. Das finde ich manchmal sehr schade, weil Berlin eigentlich immer ein Ort war, wo du eben auch in den Extremen miteinander reden konntest, wo es eine Streitkultur gab, die dich hat auseinandergehen lassen mit Respekt.
Macht es diese Veränderung einfacher oder schwieriger für Gastronomen in Berlin?
Raue Es ist einfacher geworden, weil einfach viel mehr Menschen nach Berlin kommen. Der Westberliner, mit dem ich noch groß geworden bin, der hat sich am Ku‘damm in irgendwelchen italienischen Restaurants verarschen lassen. Als ich angefangen habe zu lernen, gab es drei Ein-Sterne-Restaurants. Heute haben wir, glaube ich, 21 oder 22 besternte Restaurants, davon eins mit drei Sternen, fünf mit zweien.
Da stand die Mauer noch. Es muss doch schwierig gewesen sein, an gute Produkte zu kommen, oder?
Raue Da war ich Auszubildender. So weit habe ich noch nicht gedacht. Aber es war schon so, dass ich mit meinem ausschweifenden Denken Berlin geliebt habe, eben wegen seiner Mauer. Berlin war für mich immer schön, weil ich wusste, wo Endstation ist. Und lustigerweise sind die Orte, an denen ich heute am liebsten bin, Inseln oder Stadtstaaten. Bitte jetzt aber nicht falsch verstehen: Trotzdem wünsche ich mir die Mauer natürlich nicht zurück!
Heute kann man Ihren kulinarischen Stil in Restaurants in vielen Städten erleben – und auch auf mehreren Kreuzfahrtschiffen. Wie schafft man es, dass andere Köche diesen Stil unverfälscht umsetzen?
Raue Also, das klingt jetzt für die Mitarbeiter fies, aber es ist auch viel Glück dabei. Es gibt natürlich Rezepte. Aber das Problem ist, dass die Natur jedes Mal anders ist. Mit fünf Mal ein Kilo Erbsen kocht man fünf unterschiedliche Pürees, bei denen man einmal die Schärfe, einmal das Salz, einmal die Säure nachjustieren muss. Aber ich habe früh gelernt zu delegieren. Vertrauen in die Mitarbeiter zu haben. Schmeck‘s noch mal ab, probiere es noch mal, denk daran, immer noch eine Zitrus-Note am Schluss rein. Stell dir vor, das hier ist eine Blüte. Und du möchtest diese Blüte leicht und zitrisch machen. Du beißt rein und du schmeckst Erbse, alles grün, alles fein, aber ist das Zitrische da? Hast du das Parfum in der Nase? Kitzelt’s dich? Hast du das erreicht? Dann bring es mir noch mal!
Sie haben oft gesagt, Ihre Küche wolle provozieren. Manche Menschen provozieren aber hochgradig ungern. Können die trotzdem bei Tim Raue in der Küche arbeiten?
Raue Es geht natürlich schon darum, dass unsere Mitarbeiter Begeisterung für das mitbringen, was wir tun. Aber Fanboys und Fangirls stellen wir auch nicht ein. Jeder bringt seine Persönlichkeit mit ein. Meine Freude ist riesig, wenn ich um die Ecke komme und was probiere und das schmeckt noch geiler, als ich das eigentlich konzipiert habe. „Was hast du denn gemacht?“ – „Ich habe noch eine Spur Holunderblütensirup drangemacht.“ Da bin ich der Erste, der sich riesig drüber freut.