6,7 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll Sind wir ein Volk von Verschwendern?

In deutschen Privathaushalten landen jährlich rund 6,7 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll. 82 Kilo pro Person im Jahr. Weit mehr als die Hälfte der Nahrung wäre zumindest teilweise noch brauchbar. Das geht aus einer neuen Studie für das Verbraucherschutzministerium hervor. Die Gründe dafür sind vielfältig. Auch Banken verdienen mit.

 Jeder Deutsche wirft im Jahr 82 Kilo Lebensmittel weg.

Jeder Deutsche wirft im Jahr 82 Kilo Lebensmittel weg.

Foto: dpa, Frank May

Dieses Brot wird niemanden satt machen. Es wird eine halbe Stunde im Bäckerei-Regal liegen, dann wird es mit vielen anderen Broten und Brötchen in eine Plastikkiste gepackt, um am Morgen per Lkw zur Mülldeponie gefahren zu werden. Dennoch legen Roland Schürens Angestellte eine halbe Stunde vor Ladenschluss noch einmal frische Brote in die Auslage. Roland Schüren betreibt mehrere Bäckerei-Filialen, in denen sich die oben beschriebene Szene regelmäßig abspielt.

 Trend Containern. Junge Leute holen sich Lebensmittel aus dem Müll.

Trend Containern. Junge Leute holen sich Lebensmittel aus dem Müll.

Foto: ddp

Weil es fast alle Wettbewerber so machen. Weil der Verbraucher es so erwartet. In einem Fall schrieb der Supermarkt, in dessen Vorraum er bis vor kurzem einen Laden betrieb, genau diese Regel sogar vor: "Volles Regal bis 18.30 Uhr", stand in seinem Mietvertrag. Noch immer backt der Bäcker jeden Morgen mehr, als er verkaufen kann. Der Überschuss an Brot und Brötchen, die Roland Schüren mit seinem breiten Netz an Bäckereifilialen jeden Monat zu viel aus dem Ofen holt: 100 Tonnen.

1400 Tonnen

In Deutschland hat das Lebensmittel seine Jahrtausende alte Wertschätzung verloren. Jeden Tag wandern 1400 Tonnen Brot in Deutschland in den Müll. Bäckereien entsorgen durchschnittlich zehn bis 20 Prozent ihrer Tagesproduktion, weil sie keinen Absatz finden. Anders ausgedrückt: Europaweit landen jährlich drei Millionen Tonnen Brot auf dem Müll — jedes fünfte Brot wird umsonst gebacken. Dennoch wird hemmungslos überproduziert. Was macht uns zu einer Gesellschaft der Verschwender?

Die Ursachen für den verantwortungslosen Umgang mit Lebensmitteln sind vielfältig. Eindrücklich dokumentierte dies kürzlich der Kinofilm "Taste the Waste". Der Film zeigt, wie "Mülltaucher" sich in den deutschen Großstädten auf die Suche nach weggeworfenen Lebensmitteln in den Mülltonnen der Supermärkte machen. Und wie unser Nahrungsmittel-Überfluss mit der Armut in der Dritten Welt zusammenhängt. Begleitend dazu haben die Filmemacher Stefan Kretzberger und Valentin Thurn in ihrem Buch "Die Essensvernichter" aufgeschrieben, warum die Hälfte aller Lebensmittel in Deutschland auf dem Müll landet, und wer dafür verantwortlich ist.

Die Form der Kartoffel ist entscheidend

"Das System der Verschwendung beginnt bereits auf dem Feld", schreiben die Autoren. Die folgenreiche Selektion beginnt schon auf dem Kartoffelroder. Dort, bei der Ernte, entscheiden Arbeiter darüber, ob die Kartoffel von Form und Größe ansprechend genug ist, um im deutschen Kochtopf zu landen. Oder ob sie samt Steinen und Gestrüpp über das Roder-Fließband wieder auf dem Acker landet.

Natürlich wäre es zu einfach, den Bauern die Schuld in die Schuhe zu schieben. Hat die Kartoffel eine Herzform oder ist sie zu klein, kann sie nicht mehr als Klasse 1 deklariert werden — und wird von den Lebensmittelkonzernen nicht gekauft. Eine EU-Richtlinie für den Verkauf von Äpfeln sieht einen Mindestumfang von sechs Zentimetern für das Obst vor. Beträgt der Anteil der Rotfärbung der Sorte Braeburn weniger als 33 Prozent, bekommt sie keine Klasse-1-Deklaration. Frische und Geschmack spielen bei der Bewertung nicht die Hauptrolle.

Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Lebensmittel wandern durchschnittlich durch 33 Hände, bis sie auf dem deutschen Mittagstisch landen. 33 Mal werden Obst und Gemüse, Fisch, Fleisch und Käse begutachtet, bewertet, aussortiert und ein Teil davon direkt entsorgt. Eine der größten Selektionen findet dabei in den deutschen Supermärkten statt.

In den Obst-Auslagen liegen Hunderte frischer knackiger Früchte. Zu jeder Jahreszeit gibt es Grapefruits, Papayas und Kiwis aus allen Ländern der Welt. Tausende Supermarkt-Mitarbeiter sind tagtäglich damit beschäftigt, die Regale ansprechend herzurichten: Was nicht mehr taufrisch aussieht, wird sofort gegen frische Ware ersetzt.

Das Prinzip Verführung

Es wäre viel zu viel Aufwand, einen einzelnen vergammelten Pfirsich zu entsorgen und die übrigen weiter zu verkaufen. Deshalb wird der komplette Inhalt der ganzen Stiege weggeschmissen und durch eine neue ersetzt. "Die Arbeitszeit der Angestellten darauf zu verwenden, einzelne Obst- und Gemüsestücke auszusortieren, ist für die Händler zu teuer", schreiben Kreutzberger und Thurn. Wer in Zeiten einer andauernden Wirtschaftskrise und hartem Wettbewerb Personalkosten sparen kann, tut dies nur zu gerne.

"Fünf Prozent des Gemüses werden abgeschrieben", sagt Michael Gerling, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes des deutschen Lebensmittelhandels. Das dürfte Schätzungen zufolge noch eine optimistische Zahl sein. Der modernen Kommissionierung sei Dank, wird die an der Supermarktkasse ausgescannte Ware von den Hightech-Kassensystemen automatisch nachbestellt. So ist immer genug auf Lager — ob die Ware tatsächlich nachgefragt wird oder nicht.

Das Prinzip der großen Supermärkte in Deutschland basiert auf Verführung. Die Auswahl ist so groß, dass blind und satt sein muss, wer beim Anblick von Süßigkeiten, Delikatessen und Frischwaren nicht spontan ins Regal langt — ob der Artikel nun auf seinem Einkaufszettel steht oder nicht.

Diese psychologische Schwäche weiß die Lebensmittelindustrie zu nutzen. "Unser Kühlschrank ist eine Stimmungsapotheke", sagt Stephan Grünewald, Gründer des Meinungsforschungsinstituts Rheingold. Der Experte hat analysiert, warum sich in den Supermarktregalen 100 verschiedene Joghurtsorten aneinander reihen. Das Ergebnis: Wir kaufen nicht, weil wir etwas brauchen, sondern weil wir vorsorgen wollen, falls wir es später einmal brauchen könnten.

82 Kilo Essen im Müll

Jeder Deutsche wirft 82 Kilo Essen in den Müll. Die Überflussgesellschaft hat sich eine seltsame Wegwerf-Mentalität angeeignet: Jeder hat schon mal die Sahne, die angebrochen vier Tage im Kühlschrank stand, entsorgt, ohne zu prüfen, ob sie eigentlich noch verzehrbar wäre. Sind wir ein Volk der Verschwender?

Es ist der unreflektierte Umgang mit dem Mindesthaltbarkeitsdatum, der für vermeidbaren Müll in vielen deutschen Haushalten sorgt. Das Haltbarkeitsdatum dient als Gewissensentlastung für den Kaufrausch. "Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass ein Teebeutel zwei Tage nach Ablauf des Haltbarkeitsdatums nicht mehr verträglich ist", sagt Ursula Hudson, Vorsitzende von Slow Food Deutschland. Die Bewegung hat sich zum Ziel gesetzt, für einen bewussteren Umgang mit Lebensmitteln zu kämpfen. Wer weiß, wo das Rind gegrast hat, dessen Filet er gekauft hat, lässt es nicht achtlos im Kühlschrank liegen, bis es nicht mehr genießbar ist.

Hauptsache billig

"Wir erleben derzeit einen starken Verlust der Wertigkeit von Lebensmitteln", sagt Hudson. In kaum einem anderen europäischen Land geben die Menschen gemessen an ihrem Einkommen so wenig Geld für Lebensmittel aus wie in Deutschland. Waren es vor 50 Jahren noch rund 40 Prozent des Einkommens, die für Obst und Gemüse, Brot und Fleisch drauf gingen, sind es heute noch rund zehn Prozent. Gerne große Mengen, gerne große Auswahl — aber Hauptsache billig. Das Problem: Unsere Verschwendung verschärft anderswo auf der Welt die Hungerkatastrophe. Nun ist es keine Neuigkeit, dass die Industriestaaten ihr Wohlstandsniveau auch auf dem Rücken der ärmeren Länder erreicht haben. Doch wie jeder einzelne mit seinem Konsumverhalten dazu beiträgt, dass in anderen Teilen der Welt zu wenig Trinkwasser vorhanden ist und sich afrikanische Familien keine Bananen leisten können, ist bisher weitgehend unbekannt.

"Es geht nicht darum, den Joghurt nach Afrika zu schaffen, sondern darum, die gemeinsamen Ressourcen sinnvoll zu teilen", sagt Hudson. Schließlich greifen wir mit unserer Überproduktion auf die gleichen Ressourcen zurück wie die Dritte Welt. Treibt die große Nachfrage nach Weizen in Europa und den USA die Getreidepreise in die Höhe, steigen auch die Lebenshaltungskosten in den afrikanischen Ländern. Es ist ein tragischer Irrsinn, wenn anschließend die Hälfte des produzierten Getreides in den Wohlstandsländern in der Mülltonne landet.

Hinzu kommt ein ebenso undurchschaubares wie folgenreiches System, mit dem Lebensmittelspekulanten kräftige Gewinne einfahren: Indexspekulanten setzen darauf, dass ein Anlagenportfolio mit verschiedenen Grundnahrungsmitteln wie Reis und Soja mittelfristig die größten Gewinne abwirft, und sorgen damit für eine permanente Nachfrage.

Die Deutsche Bank zockt mit

Die Folge ist nicht nur eine steigende Preistendenz, sondern auch Chaos bei den Märkten: Wenn die Preise für die nächstfälligen Verträge, mit denen sich Lebensmittelproduzenten und Großhändler gegen kurzfristige Preisschwankungen absichern, sinken, kaufen sie auf dem einen Markt und verkaufen auf dem anderen.

Zu den Zockern, die mit schwankenden Lebensmittelpreisen Gewinn machen, gehört auch die Deutsche Bank. Im April 2008 warb sie für ihren DB Platinum Agriculture Euro Fonds mit dem Spruch: "Freuen Sie sich über steigende Preise? Alle Welt spricht über Rohstoffe — mit dem Agriculture Euro Fonds haben Sie die Möglichkeit, an der Wertentwicklung von sieben der wichtigsten Agrarrohstoffe zu partizipieren. Investition in etwas Greifbares."

Wie lässt sich die Spirale wachsenden Bedarfs an Lebensmitteln bei gleichzeitigem Überfluss bekämpfen? Erstmals wird die Zahl der Hungernden in diesem Jahr voraussichtlich auf mehr als eine Milliarde steigen. Damit die ganze Welt satt wird, so ergeben es neueste Berechnungen, muss die Nahrungsmittelproduktion bis zum Jahr 2030 verdoppelt werden. Angesichts steigender Rohstoffpreise eine wenig aussichtsreiche Option. Die naheliegende Alternative ist die Drosselung des Verbrauchs. Je weniger entsorgt wird, desto geringer fällt die Überproduktion aus. Und desto größer sind die Chancen der Dritten Welt, vom großen Kuchen auf dem Rohstoffmarkt ein Stück abzubekommen.

Grüner Tisch gegen das Müllproblem

Die Politik versucht, Lösungen zu finden: NRW-Verbraucherminiser Johannes Remmel (Grüne) berief im November 2010 einen Grünen Tisch ein, an dem Handel und Bauern Lösungen erarbeiten sollen, wie man die Müllberge verringern kann. Und Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) hat eine Studie in Auftrag gegeben, die erstmals belastbare Zahlen liefern soll, wie viele Nahrungsmittel in Deutschland im Müll landen. Die Ergebnisse werden für den November erwartet.

Inzwischen zeigen auch die ersten Supermarktketten Verantwortungsbewusstsein: Rewe beliefert eigenen Angaben zufolge 870 lokale Tafeln in Deutschland. Und die Zahl der Verbraucher, die nicht nur Bio-Lebensmittel kauft, sondern auch auf die Herkunft und CO2-Bilanz achtet, steigt. Bäcker Roland Schüren hat mittlerweile auch eine Möglichkeit gefunden, um das täglich überschüssige Brot sinnvoll zu verwenden: Einen Teil der Überproduktion spendet er an die Tafel, um Obdachlosen und Hartz-IV-Empfängern zu helfen. Der Rest der Brote wird nicht vernichtet, sondern kommt ebenfalls einem guten Zweck zugute: Der Bäcker heizt damit seinen Ofen.

(csi/csr)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort