Das unentdeckte Massenleiden Jeder Dritte verträgt keinen Fruchtzucker
Bonn/Hamburg · Obst gilt aus gesund und sollte täglich auf dem Speiseplan stehen. Fast jeder dritte Deutsche allerdings kommt damit nicht zurecht. Ihnen beschert der Verzehr Bauchschmerzen, Krämpfe und Durchfall. Dahinter steckt eine Fructoseunverträglichkeit - die viele erst nach langer Ärzteodyssee erkennen.
Von Ernährungswissenschaftlern empfohlen, von den Deutschen geliebt: 23,5 Kilo Äpfel isst jeder im Schnitt hierzulande innerhalb eines Jahres. Jedem Dritten bekommt das nach Schätzung der Ernährungswissenschaftlerin Christiane Schäfer allerdings alles andere als gut. Sie leiden unter einer Fruchtzucker-Unverträglichkeit, auch Fructosemalabsorbtion genannt.
Welche Nahrungsmittel bereiten die größten Probleme?
Sie macht sich nach dem Verzehr besonders fructosereicher Obstsorten wie Apfel, Birne, Traube oder Kiwi bemerkbar, kann aber auch nach dem Genuss von Fruchtmus, Marmeladen und Gelees oder Fruchtsäften auftreten. Wie schnell dann der Körper rebelliert, ist höchst individuell und nicht nur von der Menge des aufgenommenen Fruchtzuckers abhängig, sondern auch von der bakteriellen Besiedelung des Darms und andere Faktoren.
Zurückhaltung ist jedoch nicht nur bei Obst geboten, sondern auch bei Honig, ebenso wie Agavendicksaft, Limonaden oder Wellnessgetränken, die häufig große Mengen Fruchtzucker enthalten. In Cerialien versteckt sich der Schmerzen verursachende Stoff ebenso wie in den Trockenfrüchten des heißgeliebten Müslis oder Backwaren.
Welche Symptome treten auf?
"Bauchschmerzen bis hin zu Krämpfen, Blähungen und laut hörbare Darmgeräusche gehören zu den typischen Symptomen", so beschreibt Antje Gahl von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) die Beschwerden danach. Dauerndes Darmkollern ist also ein Fall für den Arzt. Neben Durchfällen kann den Betroffenen genauso Verstopfung zu schaffen machen. Die Stühle wechseln in ihrer Konsistenz, manchmal haben die Geplagten das Gefühl, die Luft würde geradezu im Innern festsitzen und nicht abgehen. In Ihrem Buch "Fruktose, Laktose und Sorbit vermeiden" beschreiben die beiden auf Nahrungsmittelunverträglichkeiten spezialisierten Oecotrophologinnen Christiane Schäfer und Anne Kamp, wie manchen auch Druckgefühle im Oberbauch oder Übelkeit zu schaffen machen.
Was genau läuft schief im Körper?
Hervorgerufen werden diese durch eine nicht rund laufende Zuckerverdauung, die ein nicht richtig funktionierendes Transportsystem im oberen Dünndarmabschnitt verursacht. Ein spezieller Transporter, der so genannte GLUT-5-Transporter ist dort für eine leichtere Aufnahme des Einfachzuckers zuständig. Bei Personen mit einer entsprechenden Unverträglichkeit sind von ihnen allerdings zu wenige vorhanden. Die schmerzenden Probleme beginnen. Denn kann der Abtransport aus dem Dünndarm nicht erfolgen, vergären Bakterien den nicht aufgenommenen Zucker unter anderem zu Wasserstoff.
Selbst bei gesunden Menschen können große Mengen an Fruchtzucker — wie Beispielsweise zwei volle Gläser Apfelsaft nacheinander — die Aufnahmekapazität dieser Transporter überschreiten. "Mehr als 35 Gramm Fructose in der Stunde kann ein gesunder Erwachsener nicht gut verstoffwechseln. Personen, die eine Fruktoseunverträglichkeit haben, die auch Fructosemalabsorbtion genannt wird, bereiten hingegen schon sehr viel kleinere Mengen Probleme", sagt Antje Gahl.
Was ist der Unterschied zur Fruktoseintoleranz?
Neben den Malabsorbtion gibt es die sogenannten hereditären Fructoseintoleranz, bei der der Fruchtzucker aufgrund eines Enzymdefekts in der Leber nicht abgebaut werden kann. Sie macht sich im Unterschied zu der häufig vorkommenden Unverträglichkeit immer bereits im Säuglingsalter durch Erbrechen, Durchfall, Benommenheit oder Lethargie bemerkbar. Wer unter dieser Erkrankung leidet, der muss ein Leben lang vollkommen auf Obst und fruktosehaltige Nahrungsmittel verzichten, um nicht Leber- und Nierenschädigungen zu riskieren. Diese Form der kommt nach Einschätzung von Ernährungsexpertin Schäfer bei einem von 20.000 Neugeborenen vor. Sie ist durch einen Gentest nachweisbar.
Wie diagnostiziert man eine Fruchtzucker-Unverträglichkeit?
Auch zur Diagnose der häufig vorkommende Unverträglichkeit von Fruchtzucker gibt es ein sicheres Nachweisverfahren. Internisten und Gastroenterologen kommen ihr mit Hilfe eines Atemtests auf die Spur. Dazu muss der Betroffene eine Fructoselösung trinken. Wenn die Verdauung des Einmalzuckers im Darm nicht richtig funktioniert, entsteht durch die Bakterienverdauung im Dickdarm Wasserstoff. Dieser gelangt über den Blutkreislauf in die Lungenbläschen und kann dann abgeatmet werden.
Bei einem gut durchgeführten H2-Atemtest wird über zwei oder optimal drei Stunden in regelmäßigen Abständen gemessen, wie hoch der ausgeatmete Wasserstoffanteil ist. Liegt eine Unverträglichkeit vor, steigt dieser Wert an. Neben der Gasmenge geben auch die auftretenden Beschwerden Aufschluss darüber wie schwer die Unverträglichkeit beim jeweiligen Patienten ist. Nicht angewendet werden darf dieser Test bei Menschen mit hereditären Fructoseintoleranz. Er könnte bei ihnen eine Entgleisung des Zuckerstoffwechsels auslösen und im Koma enden.
Was macht die Diagnose so schwer?
Während ein Becher Zitronensorbet am Wochenende keine Probleme machte, rumort es nach nur zwei Kugeln des eisigen Genusses drei Tage später ordentlich im Gedärm. Eine typische Situation, die es den Betroffenen so schwer macht, die Ursache für ihre Beschwerden zu finden. Die löst vielleicht gar nicht das Zitronensorbet aus, sondern die Gesamtmenge an Fruchtzucker, die schnell aufeinander aufgenommen wurde. Ein Glas Fruchtsaft oder eine Hand voll saftiger Kirschen, denen man nicht wiederstehen kann, sorgen im Körper für eine Fructoseschwemme und machen dann Probleme. Oft verschleiern zudem die diffusen und unspezifischen Beschwerden die Erkrankung. Wer nicht Ernährungstagebuch führt, der kommt dem Problem selten zufällig auf die Schliche. Zumal die Betroffenen häufig unter mehreren Zuckerverwertungs-Störungen wie auch Laktoseintoleranz — einer Unverträglichkeit von Milchzucker — oder Sorbit leiden.
Warum sollte man auch Sorbit meiden?
Selbst wenn Sorbit vertragen wird, kann sich der Zuckeraustauschstoffes ungünstig auf Menschen mit Fructoseunverträglichkeit auswirken. Denn in größerer Menge kann er seinerseits zu Durchfall führen. Übel macht sich auch eine andere Querwirkung bemerkbar: Sorbit blockiert den GLUT-5-Transporter, der für die Aufnahme des Fruchtzuckers nötig ist, und kann so nach Informationen der DGE die Bauch- und Darm-Beschwerden verstärken.
Warum sollten Betroffene dennoch Obst essen?
Darum empfiehlt Ernährungsexpertin Antje Gahl im Falle einer Fructosemalabsorbtion auch auf Sorbit und andere Zuckeraustauschstoffe zu verzichten. Nicht aber hingegen auf Obst. Das mag wiedersinnig klingen, denn steckt ausgerechnet darin der Einfachzucker, der dem Organismus zu schaffen macht. Doch nach einem zweiwöchigen Verzicht auf Fruktose sollten nach Rat der Fachleute Betroffene unter Anleitung mit dem Austesten der persönlich vertretbaren Fructosemenge beginnen und in diesem Rahmen auch weiterhin Obst essen. So sorgen sie nicht nur für eine weiterhin gute Versorgung mit wasserlöslichen Vitaminen und Mineralstoffen, sondern auch dafür, dass die Zahl der zu wenig vorhandenen Fructose-Transporter nicht noch weiter abnimmt.
"Die Obstsorten, die eher säuerlicher schmecken enthalten grundsätzlich weniger Fruchtzucker und werden oft in kleiner Menge vertragen", so ein Tipp der Bonner Ernährungsexpertin. Himbeeren, Blaubeeren, Bananen, Orangen oder auch Honigmelone und Ananas gehören dazu.
Das kann man tun, damit der Zucker besser vertragen wird
Ein weiterer Trick, der die fruchtigen Versuchungen beschwerdeärmer macht, das Obst zusammen mit Fett und Eiweiß zu verzehren. Beide dienen als Transporthelfer, weil sie länger im Verdauungstrakt verbleiben und dadurch zu einer verbesserten Fruktoseaufnahme führen. Während Aprikosen pur beim Verdauungsempfindlichen den Darm in Wallung bringen können, werden sie in Natur-Joghurt hingegen ganz gut vertragen. Verbessern lässt sich die Fructoseaufnahme auch durch den gleichzeitigen Verzehr einer geringen Menge Traubenzucker.
Allen Bauchschmerzen- und Durchfall-Geplagten empfiehlt es sich, den Symptomen nachzugehen und sie nicht herunterzuspielen oder einfach hinzunehmen. Denn eine unbehandelte Malabsorbtion führt zu zunehmenden Bakterienwachstum im Darm und dadurch zu Fehlbesiedlung und größere Probleme. Bei ausufernden Beschwerden kann dann eine Antibiotikabehandlung notwendig werden. Selbst wenn danach auch wieder Obst auf den Speiseplan darf, von der beliebtesten Frucht, dem Apfel, wird es auch dann nicht mehr als eine Spalte sein.