Bier und Wein, das lass sein? Das bringt der Alkoholverzicht im „dry january“
Analyse · Ein Glas Rotwein für die Gesundheit, Bier für die Geselligkeit, Sekt für den besonderen Anlass – Gründe für Alkoholgenuss finden sich viele. Dagegen allerdings auch: Der „dry january“ oder die Fastenzeit. Eine gute Aktion oder Aktionismus, Sinn oder Selbstbetrug?
Gelegenheiten gab es in letzter Zeit wieder einmal genug: Auf den Weihnachts- und Wintermärkten, die endlich wieder stattfinden durften, wenn auch unter verschärften Corona-Auflagen. Bei Raclette-Abenden und Familientreffen, wenn auch in kleineren Kreisen. In Bars und Restaurants, ja auch in digitalen Weihnachtsfeier-Meetings nach Feierabend, der Pandemie sei Dank. Hier ein Glühwein, da ein Bierchen, ob Wochenende oder Wochentag, in der Adventszeit lassen die Menschen für gewöhnlich Milde walten, in vielerlei Hinsicht auch mit sich selbst.
Der Frust der vierten, nun aufkommenden fünften Welle tat und tut sein Übriges. Warum bei all den politischen Vorgaben, medizinischen Empfehlungen und gesellschaftlichen Ratschlägen auch noch sich selbst geißeln? Warum sich nicht öfter etwas gönnen, ganz ohne Rechtfertigung und Anlass? Alkohol ist dein Sanitäter in der Not, Alkohol ist dein Fallschirm und dein Rettungsboot. Das sang schon Herbert Grönemeyer. Aber auch: Alkohol ist das Drahtseil, auf dem du stehst.
Nicht jeder droht dabei abzustürzen. Am ehesten wohl diejenigen, die nicht nach unten schauen oder nach links oder rechts. Doch es scheint sich eine Gegenbewegung etabliert zu haben, die hinschaut und die allmählich auch in Deutschland sichtbar wird – unter dem Stichwort „dry january“ in den sozialen Medien. Trocken bleiben im Januar, so das wortwörtliche Ziel dieser Aktion, die vor etwa zehn Jahren in Großbritannien entstand.
Zwar liegt das Land im europäischen Vergleich beim Pro-Kopf-Alkoholkonsum unter Erwachsenen im Mittelbereich, ihrem trinkfreudigen Image werden die Briten allerdings mit einem traurigen Rekord gerecht: 2020 gab es im Vereinten Königreich so viele Alkoholtote wie noch nie. 8974 Menschen seien landesweit direkt durch Alkoholmissbrauch gestorben, teilte das britische Statistikamt ONS im Dezember mit – fast ein Fünftel (18,6 Prozent) mehr als im Jahr zuvor und der höchste Anstieg seit Beginn der Datenerhebung 2001. Dazu zählen keine indirekt durch Alkohol verursachten Toten etwa infolge von Verkehrsunfällen, Gewalt oder psychischen Erkrankungen. Zum Vergleich: In Deutschland werden etwa 20.000 Todesfälle jährlich allein durch Alkoholkonsum verursacht.
„Life isn’t all beer and skittles“, pflegen die Briten zu sagen, wenn es ernst wird. Was sich die Non-profit-Organisation „alcohol change UK“ ab 2013 ganz wörtlich zur Aufgabe machte, als sie zum ersten Mal den „dry january“ ausrief. 4000 Menschen nahmen nach eigenen Angaben an der ersten offiziellen Kampagne teil, 2021 sollen es schon mehr als 130.000 gewesen sein, die sich für Coaching-Emails registriert haben oder die kostenlose Try Dry App nutzten, sich Tipps zukommen ließen und Erfahrungen teilten. Auch in Frankreich und der Schweiz ist die Aktion seit dem vergangenen Jahr am Start. Gesundheitsverbände, Krankenkassen, auch Beratungsstellen wie das Blaue Kreuz rufen zur Challenge ohne Alkohol auf, die in der Schweiz auch vom Bundesamt für Gesundheit gefördert wird.
Werde fitter, spare Geld, schlafe besser, verliere Gewicht, gewinne Preise für’s Durchhalten – an Versprechungen mangelt es bei der Kampagne ebenso wenig wie an social-media-tauglichen Sprüchen. „Filmnacht statt Filmriss“, „Eistee statt Kopfweh“, „Mit Wasser performst du krasser“ – schon klar. Aber was bleibt abzüglich des Hypes? Was bringt ein trockener Monat, für wen ist er ratsam? Und welche Schlüsse sollte man am Ende ziehen?
Medizinisch ist die Sache klar, erklärt Göran Michaelsen, Chefarzt der Soteria Klinik Leipzig, einem der größten Häuser für Suchterkrankungen in Mitteldeutschland: „Wir brauchen Alkohol nicht“, sagt Michaelsen. „Jede Form von Alkohol ist für den Menschen schädlich. Am gesündesten ist es, gar nicht zu trinken.“ Das Klischee vom gesunden Glas Rotwein halte sich hartnäckig, sei aber schlicht falsch. Alkohol ist ein Zellgift und verantwortlich für 200 verschiedene Krankheiten: Er belastet die Leber, den Magen, die Bauchspeicheldrüse, den Darm, das Gedächtnis – im Grunde jede einzelne (Nerven-)Zelle. Er kann Herzmuskelerkrankungen, Bluthochdruck und Krebs auslösen - vor allem im Verdauungstrakt, aber unter anderem auch Brustkrebs.
Gleichwohl wissen Mediziner wie Michaelsen: Alkoholverzehr ist sozial akzeptiert, oft ausdrücklich erwünscht und der Verzicht gar verpönt, im Land der Bierbrauer und Winzer. Deshalb ist die Debatte ein ähnlicher Balanceakt wie der Konsum selbst: zwischen Genuss und Sucht. „Nicht bagatellisieren, aber auch nicht dramatisieren“ rät der Chefarzt. Die Frage danach, wo der Genuss aufhört und die Abhängigkeit beginnt, ist für viele auch der Antrieb, mal eine Weile ohne zu testen – ganz gleich ob im Januar, zur Fastenzeit oder einem selbst gewählten Anlass. Für fast zu kurz hält Suchtexperte Michaelsen die Zeitspanne von einem Monat. Wer aus rein körperlichen Gründen verzichtet, bei erhöhten Leberwerten etwa, der sollte das mindestens sechs bis acht Wochen tun. Zwar regeneriere sich die Leber, der Körper ab Tag eins. „Das dauert aber länger als vier Wochen.“
Michaelsen, wie auch andere Experten, hält die Aktion durchaus für sinnvoll. „Aus therapeutischer Sicht würde ich mir aber wünschen, dass Menschen ihren Suchtmittelkonsum eher elf statt nur einen Monat im Jahr kritisch betrachten. Sich regelmäßig fragen: Schaffe ich das überhaupt, auf Alkohol zu verzichten? Fällt es mir schwer, oder zumindest schwerer als ich dachte? Oder fühle ich mich leistungsfähiger, fitter, ausgeruhter?“ Es sollte zum Nachdenken bringen, weniger ein Durchhalten sein, um nach Ablauf der Frist erst recht den Drinks zu frönen.
In Maßen trinken, heißt es dann immer so schön, aber was ist eigentlich das Maß? Mediziner wie Michaelsen sprechen vom „riskanten Konsum“, wenn es beim Trinken maßlos wird. Der Begriff sei durch umfangreiche Untersuchungen definiert, der riskante Konsum beginne im Schnitt für Männer bei 24 Gramm reinem Alkohol pro Tag, für Frauen bei 12 Gramm Alkohol pro Tag, – das entspricht etwa einer Flasche Bier (0,5 Liter) beziehungsweise einer halben.
Wer also nicht täglich eine Flasche Bier oder ein Glas Wein zu sich nimmt, braucht sich keine Sorgen machen? Die Rechnung geht so nicht auf. Als Methode, seinen eigenen Alkoholkonsum zu überprüfen, empfiehlt Michaelsen die Vier-zu-Drei-Regel: An vier Tagen die Woche keinen Alkohol, an (höchstens) drei Tagen pro Woche ist Alkohol erlaubt. Wer anfangs dabei ins Schlingern kommt, denkt vielleicht später darüber nach: Wann habe ich überhaupt das letzte Mal getrunken?
Mehr getrunken wird seit Beginn der Pandemie nicht, jedenfalls wenn man vom Pro-Kopf-Verbrauch ausgeht. Der sinkt laut Statistischem Bundesamt bei (Schaum-)Wein, Spirituosen und am meisten bei Bier: Im Januar 2021 lag der Bierabsatz, des harten Lockdowns wegen, um 27 Prozent unter dem des Vorjahresmonats. Ohne Kneipen, Partys und Volksfeste kein Wunder. Beunruhigend aber: Menschen, die ohnehin schon regelmäßig Alkohol zu Hause getrunken haben, zum Vertreiben von Einsamkeit, Langeweile oder Sorgen, trinken nun mehr. Rund 25 Prozent der Erwachsenen sind laut einer aktuellen Studie des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim betroffen. Als suchtkrank gelten etwa 1,6 Millionen Deutsche zwischen 18 und 64 Jahren.
Dass Alkoholsucht keine Charakterschwäche, sondern eine Krankheit ist, kann gerade hierzulande nicht oft genug gesagt werden. Die Krankheit ist klar definiert, wie alle Krankheiten anhand des ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems), einer medizinischen Klassifikationsliste der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Von sechs Faktoren müssen mindestens drei zutreffen, um als süchtig eingestuft zu werden: Dabei geht es etwa um Toleranzentwicklung, Kontrollverlust, Entzugserscheinungen oder gedankliche Fokussierung auf Alkohol. Inzwischen gibt es Online-Checklisten für eine erste Selbsteinschätzung, Apps wie Trinktagebücher oder eben die der „dry january“-Macher. Auch ein Hinweis von Freunden oder an Freunde kann helfen, Bewusstsein zu schaffen. Aufmerksamkeit für den eigenen Alkoholkonsum kann als Challenge beginnen, enden sollte sie dort nicht.