Sprechstunde: Jürgen Vieten Die Suchtpersönlichkeit gibt es nicht

Unser Leser Kay P. (34) aus Mönchengladbach fragt: "Mein Bruder ist alkoholkrank. Gibt es eigentlich so etwas wie eine Suchtpersönlichkeit?"

Die klassische  Suchtpersönlichkeit gibt es nicht
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Unser Leser Kay P. (34) aus Mönchengladbach fragt: "Mein Bruder ist alkoholkrank. Gibt es eigentlich so etwas wie eine Suchtpersönlichkeit?"

Jürgen Vieten Diese Frage können wir heute klar mit Nein beantworten. Bei der Entwicklung süchtigen Verhaltens spielt unser "Belohnungssystem" eine entscheidende Rolle. Es ist Teil des Gefühlszentrums. Suchtstoffe wie Alkohol und Heroin, aber auch alle nicht-stoffgebundenen Süchte (Internet-, Sex-, Ess-, Spielsucht) entwickeln sich aus diesem - manipulierten - Belohnungssystem. Die Signalübertragung im System regelt vor allem der Botenstoff Dopamin, der uns Wollen, Freude, Begeisterung, Glücksempfindungen vermittelt. Er wirkt wie ein innerer Scheinwerfer, der unsere Aufmerksamkeit auf Angenehmes lenkt. Das lieben alle Menschen und Tiere gleichermaßen. Außerdem werden von diesem System Gedächtnisbildung, Alarm- und Panikreaktionen, Mitgefühl und Verlangen mitgesteuert.

Wie kommt es zur Suchtentwicklung? Dazu muss man verstehen, dass Suchtstoffe im Hirn auf Andockstellen (Rezeptoren) passen. Deshalb werden wir nicht von Spargel abhängig, seine Inhalte passen eben nicht. Es gibt Risikofaktoren wie Erbgut, Alter, Geschlecht, traumatische Erlebnisse in Kindheit und Gegenwart. Untersuchungen zeigen, dass wir bereits bei Erwartung einer Belohnung mit Ausschüttung von Dopamin reagieren. Die Einnahme des Stoffes (Alkohol/Heroin) oder die Verhaltenssucht (Spielen, Essen, Sex) haben anfangs oft den Charakter einer Belohnung. Mit deren Einnahme oder dem Handlungsvollzug bestätigen und verstärken wir dann nur noch den bereits bestehenden Handlungsentwurf. Der Volksmund weiß: "Vorfreude ist die schönste Freude".

Auf die Sucht bezogen wird aber so eine Entwicklung in Gang gesetzt, die uns immer weiter einengt. Wir bekommen eine Art Tunnelblick und verlieren schleichend unsere Freiheit und Macht, die ihre Entsprechung in unserem Großhirn haben. Das Gefühlszentrum und das Zwischenhirn übernehmen zunehmend die Kontrolle. Wir isolieren uns, ziehen den Stoff, das Verhalten unserem sozialen Leben vor. Heute kennen wir verschiedene Suchtkrankheiten (Cannabinoid-, Alkohol-, Nikotin-, Heroin-, Kokain-oder Amphetaminkrankheit). Alle sind chronisch und können nur durch Weglassen des Stoffes (Abstinenz) zum Stillstand gebracht werden. Die Heilungschancen sind unterschiedlich: Alkoholkranke haben eine sehr gute Prognose, vorausgesetzt, sie lassen sich behandeln. Heroin-Kranke können dagegen oft nur durch Drogenersatzstoffe (Methadon / Buprenorphin) vor einem frühen Tod gerettet werden. Gleichzeitig bestehen bei 60 bis 80 Prozent der Patienten psychiatrische Krankheiten. Drogen können hier vereinzelt scheinbar hilfreich sein.

Cannabis lindert eventuell Unruhe, Schlafstörungen und Begleitsymptome der Posttraumatischen Belastungsstörung ("Flashbacks", "Kopfkino") und chronische Schmerzen. Alkohol vertreibt Ängste und Panik bei Depressionen, Angsterkrankungen und Schizophrenien. Morphium entlastet den Depressiven vorübergehend ein wenig. Bei Phobien "helfen" ein, zwei Glas Bier (Auftrittsangst bei sozialen Phobien, Flugangst). Amphetamine wirken umgekehrt auf die Hyperaktivität ADHS-Kranker beruhigend, ordnend. Alle Drogen sind aber als "Medikamente" falsche Freunde, lösen so die Sucht erst aus oder verstärken sie und verschlimmern meist die Situation des Patienten. Aktuelle Ausnahmen (Cannabis bei chronischen Schmerzen) bestärken die Regel.

Jürgen Vieten ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Mönchengladbach.

(RP)
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