Marburg Die Einsamkeit beim Asperger-Syndrom

Marburg · Mit der Asperger-Störung, einer Sonderform des Autismus, werden oft Wunderkinder mit besonderer Begabung verbunden. Andererseits spricht man Betroffenen ab, selbstständig leben zu können. Beides stimmt nicht.

Sie fallen oft schon in der Schule auf und gelten als Sonderlinge oder Egozentriker mit Spleen: Kinder mit Asperger-Syndrom. Während andere Kinder für viele neue Erfahrungen offen sind, sind ihre Interessengebiete oft stark eingeschränkt. Sie interessieren sich für ungewöhnliche Themen wie Rohrleitungssysteme oder Abflugpläne einer Airline, denen sie mit Akribie nachgehen. Von Mitschülern und Außenstehenden werden sie bisweilen belächelt. In Gesprächen und Alltagssituationen zeigen sie oft unangebrachte Reaktionen. Freunde haben sie meist nicht. Ihre schulischen Leistungen sind durchaus normal, können aber auch überdurchschnittlich sein.

"Das Asperger-Syndrom ist eine autistische Störung, die - wie alle autistischen Störungen - schon in der frühen Kindheit beginnt und mit deutlichen Auffälligkeiten verbunden ist", sagt die Psychologin Inge Kamp-Becker. Sie leitet die Ambulanz für Autismus-Spektrum-Störungen am Uniklinikum Marburg. Den Erkrankten fällt es schwer, Kontakte zu anderen Menschen zu knüpfen, sie können nicht angemessen mit anderen kommunizieren und haben eingeschränkte Interessen. Außerdem ist ein zwanghaftes Festhalten an Wiederholungsroutinen typisch. "Abläufe müssen immer gleich sein, Handlungsstränge werden immer gleich ausgeführt. Ansonsten reagieren sie mit massiver Irritation und Widerstand dagegen." Schätzungsweise 0,9 Prozent der Bevölkerung sind von dem Syndrom betroffen.

Im Unterschied zu Kindern mit frühkindlichem Autismus sind Asperger-Autisten nicht weniger intelligent und haben keine Sprachentwicklungsstörungen. Oftmals besuchen sie normale Schulen. "Eltern merken zwar meist schon früh, dass ihre Kinder irgendwie anders sind", sagt Kamp-Becker. "Auffällige Verhaltensweisen werden aber im Kleinkindalter oft noch toleriert." Gerade weil sich die Sprachentwicklung nicht verzögert, werde das Asperger-Syndrom häufig erst gegen Ende der Grundschulzeit oder noch später diagnostiziert. Eine Asperger-Diagnose bedeute aber nicht, dass Betroffene zwangsläufig nur eine leichte autistische Störung haben oder - wie oft behauptet - hochbegabt sind.

Die Ursachen autistischer Störungen sind noch nicht abschließend geklärt. Bei manchen Formen scheinen vererbte genetische Auffälligkeiten zu bewirken, dass die Hirnentwicklung anders abläuft und in der Folge das Gehirn anders funktioniert.

Autisten können Mimik und Gestik nicht verstehen, Gefühlsregungen ihres Gegenübers nicht einordnen. Es fällt ihnen schwer zu erkennen, welche Absicht jemand in einem Gespräch verfolgt. "Das ist eine Fähigkeit, die sich normalerweise etwa im vierten Lebensjahr herausbildet, und die wahrscheinlich viel mit der Vernetzung verschiedener Hirnareale zu tun hat", sagt Prof. Ludger Tebartz van Elst von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Uniklinikum Freiburg.

Autistische Menschen entwickelten diese Fähigkeit nur eingeschränkt. In komplexen sozialen Situationen sind sie daher überfordert. Daraus resultiere wahrscheinlich auch das starke Bedürfnis nach Routinen und erwartungsgemäßen Abläufen oder die intensive Beschäftigung mit Details, erklärt der Mediziner. Wichtig sei es, eine autistische Störung früh zu erkennen. "Sonst gibt es so einen Rattenschwanz von Missverständnissen, so viel Frust, Hänseleien und fehlende Akzeptanz ? in der Schule, bei der Arbeit und in den Beziehungen", sagt er. Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern sollten Eltern immer ernst nehmen und vom Arzt abklären lassen. Betroffene müssen in mühsamer Kleinarbeit und sehr zeitintensiv üben, was anderen intuitiv gegeben ist: Mimik zu deuten, in Gesprächssituationen angemessen zu reagieren, veränderte Alltagssituationen oder manchmal auch ganz normale Dinge wie Einkäufe zu bewältigen. Doch der Aufwand lohnt sich, und je früher gezielte psychotherapeutische Maßnahmen beginnen, umso besser lassen sich viele Defizite minimieren. Auch die berufliche Integration entsprechend der vorhandenen Stärken und Interessen sei wesentlich, um andere Defizite auszugleichen, so Tebartz van Elst.

Christine Preißmann ist nicht nur eine gefragte Autismus-Expertin. Sie ist auch selbst Autistin und ein gutes Beispiel dafür, dass man trotz autistischer Störung viel erreichen kann. Sie arbeitet als Allgemeinärztin und Psychotherapeutin in einer psychiatrischen Klinik. Dass Menschen mit Asperger-Syndrom ein Studium beginnen und abschließen können, komme immer häufiger vor, sagt sie. "Es gibt inzwischen Hilfen. Man kann zum Beispiel einen Studienbegleiter bekommen oder während der Schulzeit bestimmte Nachteilsausgleiche einfordern."

Um mehr Akzeptanz zu erreichen, sei es vor allem auch wichtig, ein realistisches Bild vom Autismus zu zeigen - nicht nur den Menschen mit den skurrilen Sonderbegabungen oder das Kind, das schaukelnd in der Ecke sitzt. "Man muss zeigen, dass wir trotz autistischer Störung oft ganz normale Menschen sind, die dabei sein möchten und auch dabei sein können, wenn sich alle ein bisschen Mühe geben", sagt Preißmann.

(DPA-TMN)
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